Man sollte meinen, dass die Redaktion einer überparteilichen, sozial-engagierten und feuilletonistischen Plattform wie Carta in wissenschaftlicher Hinsicht ein breites Spektrum von Standpunkten zulassen wird. In geldtheoretischen Fragen ist das nicht der Fall. In dieser Hinsicht vertraut die Redaktion ihrem Kollegen Stefan Heidenreich, der zusammen mit seinem Bruder Ralph ein Buch über das Geld geschrieben hat. Es heißt: „Mehr Geld“. Wer versucht, auf diesem Forum etwas zu aktuellen finanz- und geld-politischen Fragen zu publizieren, kommt an Heidenreich nicht vorbei. Doch dieser vertritt, wie unten gezeigt wird, eine besonders simplifizierte, platte Version der Modern Monetary Theory. Da hat man keine Chance, wenn man deren verheißungsvollen, aber leider wissenschaftlich unhaltbaren Konsequenzen für die Sozialpolitik zur Sprache bringen möchte.
Hier ein paar Kommentare zu den geldtheoretischen Thesen der Brüder Heidenreich.
1. These: „Geld gibt ein Kommando. Seine Order lautet ‚Mehr!‘ Denn Geld zählt. Zählen aber hat eine Richtung. Wir zählen nicht 0-1-0-1, sondern 1-2-3-4…. Das Zählen verlangt ganz von selbst nach Mehr.“
Von einem Autor, der unter anderem Philosophie studiert hat, darf man erwarten, dass er den Unterschied zwischen einem Imperativ („Kommando“) und einem Sachverhalt, der einen ökonomischen Wert darstellt, kennt. Dieser Unterschied wird verwischt, wenn man den Verkörperungen oder Repräsentanten von Wert die Fähigkeit unterstellt, zählen zu können. Wenn Geld, wie die Brüder Heidenreich weiter schreiben, eine Zahl ist, fragt man sich: Seit wann kann eine Zahl zählen? Sind es nicht wir Menschen, die mit Hilfe der Zahlen andere Dinge zählen? Sind es nicht Menschen, die manchmal nach immer mehr Geld verlangen? Den meisten Menschen genügt das, was monatlich auf ihrem Konto eingeht. Einige möchten etwas mehr haben, einfach, weil sie zu wenig haben, um über die Runden zu kommen. Und noch andere können nie genug bekommen. Geld ermöglicht es ihnen, ihre Gier zu befriedigen. Aber dem Geld selber ist es völlig egal, ob es noch mehr davon gibt. Im Gegenteil! Wenn Geld einen Willen hätte, wäre es strikt gegen mehr Geld: denn dadurch verliert es an Wert.
2. These: „Geld entsteht als Schuld.“
In dieser apodiktischen Allgemeinheit ist die These falsch. Historisch gesehen entstand Geld auf die vielfältigsten Weisen und diente vor allem dazu, Schulden zu tilgen (Bräutigam 2015) – also das genaue Gegenteil von dem, was die Brüder Heidenreich behaupten. Geld hatte vor dem Entstehen des zweistufigen Geldsystems selber einen Wert – eben deshalb konnte man damit Schulden tilgen (Greitens 2019). Das moderne Geld – ob nun in Form von Banknoten, Münzen oder als Betrag auf einem Konto – repräsentiert ökonomische Werte, ohne selbst einen Wert zu haben. Zum Teil entsteht es tatsächlich als Schuld, wenn sich Geschäftsbanken bei der Zentralbank gegen Hingabe von Sicherheiten Geld borgen, aber zum anderen Teil gelangt Geld in den Kreislauf, indem die Zentralbank den Banken Sicherheiten (verschiedene Arten von Wertpapieren) abkauft. Das ist die in den USA bevorzugte Methode, und sie bedeutet, dass Geld keinesfalls immer als Schuld entsteht. Auch das „Quantitative Easing“ der EZB operiert nach dieser Methode, erzeugt also keineswegs neue Schulden und ist auch nicht als Schuld zu deuten.
3. These: „Wenn A an B ein Geld verleiht, entsteht kein neues Geld. Wenn aber eine Bank … Geld verleiht, das sie nicht hat, dann ist neues Geld entstanden.“
Eine Bank kann immer nur das Geld verleihen, das sie momentan hat, genauer gesagt: das sie von anderen bekommen hat. Eben das ist das Geschäftsmodell einer Bank – hier von den Gebrüdern Heidenreich völlig verkannt. Klarerweise hat die Bank das Geld nicht mehr, wenn sie es verliehen hat und muss sich dann darum kümmern, neue Einlagen einzuwerben. Die Brüder meinen wahrscheinlich, dass das Geld, das Banken verleihen, nicht ihr Eigentum ist. Der Eigentümer hat es der Bank übergeben, wohl wissend, dass die Bank damit Geschäfte machen wird. Das Geld ist dann im Besitz der Bank. Offenbar haben die Autoren die Geldtheoretiker Heinsohn und Steiger (2008) nicht zur Kenntnis genommen, wenn sie Eigentum und Besitz in einen Topf werfen.
4. These: „Am Anfang ist Geld nichts als Zahlen in einer Tabelle.“
Das ist eine typische Aussage der deutschen Anhänger und Verflacher der Modern Monetary Theory. So schreibt auch Dirk Ehnts (2016: 91): „Aufgrund der Tatsache, dass sowohl Reserven wie auch Bankeinlagen am Computer mithilfe einer großen Tabelle erzeugt werden, sind weder Reserven noch Bankeinlagen durch irgendeine Art physischer Grenzen beschränkt.“ Physischen Grenzen der Geldschöpfung sind zum Beispiel die Mauern der Gebäude von Banken. Aber was soll dieses Argument? Hier kommt es auf die banktechnischen Bedingungen an, die die Geldschöpfung – übrigens trotz Negativzinsen – im Zaum halten, also die Verfügbarkeit über Sicherheiten (bei Reserven und Krediten) und anderweitig verdientes Geld (bei externen Einlagen). Für die MMT ist charakteristisch, dass sie die komplexen Bedingungen, die der Geldschöpfung existenziell zugrunde liegen, ignoriert. So auch die These 4: Die Zahlen in einer von einer Bank geführten Tabelle registrieren lediglich, wer über monetäre Werte verfügt und in welchem Maße, sind aber keine. Auch hier liegt wie bei der These 1 eine unsaubere Semantik vor.
5. These: „Die Zentralbank schöpft Geld, indem sie einer anderen Bank eine Zahl ins Buch schreibt.“
Eine Bank verschuldet sich bei der Zentralbank und bekommt die Schuld dann ins eigene Hauptbuch geschrieben? Wenn sie es dann wegwirft ist die Schuld getilgt? Für so viel Humbug kann man eigentlich nur Spott übrig haben. – Es handelt sich um einen Betrag, der der Bank auf einem Konto gutgeschrieben wird, das sie bei der Zentralbank halten muss. Und die Zentralbank macht das nur, wenn die Bank ausreichend Sicherheiten hinterlegt hat, um ein Ausfall abdecken zu können. Solche Dinge „vergessen“ die deutschen MMT-ler gern. Bei den führenden Vertretern der MMT werden sie zwar nicht vergessen, aber in ihrer Bedeutung nicht gewürdigt. Diese Vergesslichkeit ermöglicht es den Anhängern der MMT, die Geldschöpfung als einen völlig unproblematischen, nur von der Willkür der Bank abhängigen Akt auszudeuten.
6. These: „…bis vor 30 Jahren hätte der Konsument nie der Letzte in der Kette sein dürfen, der Schuldner der letzten Instanz.“
Es gibt unter den ca. 10 Mio. Bürgerinnen und Bürgern, die ein niedriges Haushaltseinkommen haben, tatsächlich viele, die hoch verschuldet sind. Aber für den Rest der Bevölkerung trifft das nicht zu. Der gibt nur Geld aus, das vorher verdient worden ist. Mithin haben die meisten selten Schulden. Doch hier ist etwas Prinzipielles gemeint: Allein dadurch, dass Menschen Geld besitzen, sind sie Schuldner. Vom Standpunkt des Mainstreams stehen den Geldbesitzern Schuldner gegenüber – also genau das Gegenteil. Vom Standpunkt einer Geldtheorie, die Geld als verdinglichtes Verhältnis auffasst (Quaas 2018), irren die Vertreter beider Standpunkte: Wer ein Wertpapier sein eigen nennt – und modernes Geld kann jederzeit diese Form annehmen – der kann damit Schulden tilgen, aber er kann an niemand, der nichts verkaufen will, eine Forderung stellen. Nicht einmal an die Bank, die das Geld geschöpft hat – die Zentralbank. Geld in den Händen der Kunden und Kundinnen von Banken ist weder eine Forderung noch eine Schuldverschreibung, und es basiert nur dann auf Schulden, wenn dem ein Kredit zugrunde liegt. Was keineswegs immer der Fall ist. Die Behauptung, dass es den Inhaber zu einem Schuldner mache, ist ein Stück aus dem Tollhaus, das die Leserschaft in Erstaunen versetzen soll.
7. These: „Mehr Schulden = mehr Geld = mehr Umsatz = mehr Gewinn“
Der erste Teil „Mehr Schulden = mehr Geld“ ist mit der These 2 bereits widerlegt worden. Dass der zweite Teil, „mehr Geld = mehr Umsatz = mehr Gewinn“ nicht zutrifft, können wir seit geraumer Zeit beobachten. Die Geldmenge M1 ist seit 1991 um durchschnittlich 7 Prozent pro Jahr gestiegen, das BIP ist aber kaum über 2 Prozent Wachstum hinaus gekommen. In jeder Krise sinkt (!) der Gewinn absolut, obwohl die Schulden steigen. – Das sind alles leicht nachprüfbare Fakten, die gegen jene laienhaften Fantasien sprechen, die der These 7 zugrunde liegen.
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Was kann man von einem Buch erwarten, das gleich auf den ersten zwei bis drei Seiten derart jenseits einer realistischen und wissenschaftlichen Betrachtungsweise und – nebenbei bemerkt – auch jenseits der geldtheoretischen und fiskalpolitischen Diskussion liegt? Jedenfalls nichts, was eine an harten Fakten interessierten Leserschaft interessieren könnte. Mag sein, dass das Buch Träumern von einer geldlosen Welt manches Unterhaltsame zu bieten hat. Unrealistische und schlecht informierte Träume haben sich noch nie in etwas Reales verwandelt. Bedauerlich ist nur, dass eine ernsthafte geldtheoretische Debatte auf Carta verhindert wird, wenn Redakteure, die von der Geldtheorie nichts verstehen, das Sagen haben.
Verweise:
Lars Bräutigam (2015): Geld, Macht und Herrschaft. Hamburg
Dirk Ehnts (2016): Geld und Kredit – eine Euro-päische Perspektive. Marburg
Jan Greitens (2019): Geld-Theorie-Geschichte, Marburg
Ralph Heidenreich, Stefan Heidenreich (2011): Mehr Geld. Berlin
Gunnar Heinsohn, Otto Steiger (2008): Eigentumsökonomik, Marburg
Georg Quaas: Relationale Geldtheorie (2018). Marburg