Konspekt

zu Klaus Müller: Steile Pfade, lichte Höhen. Marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert. Mangroven Verlag 2024. 463 Seiten. 36 Euro. Vorliegend ein unangefordert eingegangenes Rezensionsexemplar, das ausführlich konspektiert wurde.

Schwerpunkte

1.1 Einführung
1.2 Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit
1.3 Hausarbeit und Wertschöpfung
1.4 Marx’ Methode(n)
1.5 Abstrakte und gleiche menschliche Arbeit
1.6 Müllers politökonomische Zeit
1.7 Erste und zweite Vergegenständlichung
1.8 Wert und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit
1.9 Messung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit
1.10 Marx’ Preistheorie
1.11 Der Begriff des Marktwerts
1.12 Einfache und kapitalistische Warenproduktion
1.13 Nochmals: Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit
1.14 Proportionalität von Wert und Arbeitszeit
1.15 Was ist der Wert?
1.16 Müller und das neoricardianische Modell
1.16.1 Müllers Arbeitszeitrechnung
1.16.2 Ein voraussichtliches Gegenargument
1.17 Kompliziertheitsgrad der Arbeit
1.18 Die Intensität der Arbeit
1.19 Der Wert, ein gesellschaftliches Verhältnis?
1.20 Produktionspreis
1.21 Geld
1.22 Datengrundlage
1.23 Definition der Ware
1.24 Abschreibung
1.25 Mehrwert und konstantes Kapital
1.26 Abgeschriebene Maschinen
1.27 Irrationales
1.28 Organische Zusammensetzung
1.29 Erweiterte Reproduktion
1.30 Marx’ Kostpreisirrtum
1.31 Mehrwertrate und Produktivität
1.32 Sinkende Wertzusammensetzung?
1.33 Rententheorie
1.34 Wer ist ein Marxist?
1.35 Müllers Wertbegriff und die Wertübertragung
1.36 Literatur

1.1 Einführung

Das Ziel des Autors besteht darin, sich „einigen der scheinbaren oder tatsächlich ungelösten Probleme der marxistischen ökonomischen Theorie zuzuwenden“. Dabei sollen „kontroverse Interpretationen ausgewählter Themen der drei Kapital-Bände“ im Mittelpunkt stehen. (23) Präsentiert wird eine sich über zwei Buchseiten erstreckende Liste von Fragen, die erörtert werden sollen.

Im Widerspruch zur erklärten Absicht beginnt Müller mit der Darstellung der Urgesellschaft. Ernest Mandel zitierend wird behauptet, dass in diesem Stadium der menschlichen Entwicklung kein Mehrprodukt anfiel, weil alles Produkt notwendig zum Überleben war. „Vorräte werden nicht angelegt.“ (26) Man fragt sich, wie die Urmenschen über den Winter kamen und was sie mit dem Teil der Beute taten, der nicht sofort verzehrt werden konnte. Waren sie dümmer als Graumulle oder Eichhörnchen? Doch von solchen Kleinigkeiten sollten wir uns nicht aufhalten lassen: Wie mit einem Elektroroller werden wir durch Müllers Museum der frühzeitlichen Geschichte der Menschheit chauffiert, in dem sich alles um zwei Begriffe dreht: um den der Notwendigkeit und den des Mehrprodukts. Auf wenigen Seiten werden mindestens 18-mal gewisse Notwendigkeiten beschworen. Überwiegend geht es um die Notwendigkeit, die Bedürfnisse einer langsam, aber stetig wachsenden Zahl von Menschen materiell zu befriedigen, und außerdem darum, wie sich nach und nach ein gewisses Mehrprodukt herausbildete. Nachdem auf 11 Seiten die Urgemeinschaft skizziert worden ist, folgen 5 ½ Seiten zum Thema Feudalismus, eine Gesellschaftsformation, die unter demselben Aspekt betrachtet wird. Auf der Seite 42 kommen wir zwar noch immer nicht zu den Problemen der „Kapital“-Lektüre, aber wenigstens zum Gegenstand des „Kapital“, dem Kapitalismus, und damit zu grundlegenden Sachverhalten dieser Gesellschaftsformation, so wie sie Müller aufgrund seiner Lesart des „Kapital“ für gegeben erachtet: Der Lohnarbeiter ist gezwungen, seine Arbeitskraft an den Kapitalisten zu verkaufen und ihm das Mehrprodukt abzutreten. Ein Schelm, wer jetzt an das Bürgergeld denkt! Man hätte es ahnen können, dass in diesem Abschnitt die Verwendung des Begriffs der Notwendigkeit explodiert. Das ist nicht nur eine stilistische Frage. Vielmehr geht es dem Autor darum, den Leser sachte darauf vorzubereiten, was er unter dem Begriff der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“ versteht.

1.2 Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit

Müllers Ausgangspunkt lautet so:

„Wieviel Arbeitszeit für das Produkt benötigt wird, hängt ab von der ‚normalen‘, d.h. der bei der Herstellung des jeweiligen Produkts dominierenden Produktivität. Aus der Multiplikation dieser Größe mit der Bedarfs- bzw. gewünschten Menge ergibt sich die Arbeitszeit, die die Gemeinschaft insgesamt für das Produkt aufwenden darf.“ (87)

Gleich bei der Darstellung eines so einfachen Zusammenhanges wie der Arbeitsproduktivität stolpert der Ökonom Müller über deren mathematische Beziehung: Die Produktivität der nützlichen Arbeit, bezeichnen wir sie mit π, ist der Quotient aus produzierter Menge, symbolisieren wir diese kurz mit a, und der dafür benötigten Zeit t, also π=a/t: Die (physische) Produktivität besagt, dass so und so viele Produkte je Arbeitszeit hergestellt werden. So auch Müller an anderer Stelle. (305) Ist infolge eines bekannten Bedarfs die Produktmenge vorgegeben, die produziert werden soll, ergibt sich die Arbeitszeit nicht, wie Müller schreibt, durch eine Multiplikation, sondern durch eine Division der Menge durch die Produktivität: t=a/π. Das ist leicht durch Umstellen der obigen Formel nachzuvollziehen.

Der Flüchtigkeitsfehler, den Müller hier begeht, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Müller in die Diskussion des Begriffs der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit den gesamtgesellschaftlichen Bedarf einstreut, aus dem sich die Arbeitszeit ergäbe, „die die Gemeinschaft insgesamt für das Produkt aufwenden darf.“ In Kenntnis der Marxschen Definition jenes Begriffs fragt man sich, was das mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zu tun hat. Doch sehen wir weiter! Im folgenden Text ist verschlüsselt von einer Planwirtschaft die Rede:

„Werden eine willkürliche Produktion und Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeit auf die Herstellung der unterschiedlichen Produkte ausgeschlossen, muss man einsehen, dass es auch in nicht Waren produzierenden Ordnungen eine gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit für die Produkte gibt.“ (87)

Halten wir fest, dass es nach Müller eine gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auch jenseits einer warenproduzierenden Gesellschaft gibt. Wir erfahren, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit eine Größe ist:

„Diese Größe besagt, wieviel Arbeitszeit der Produzent in einer gemeinschaftlichen, arbeitsteiligen Produktion für seine Waren aufwenden und damit von der der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Gesamtarbeitszeit beanspruchen darf.“ (93)

An dieser Stelle wird in den bei Marx wohldefinierten Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit der gesamtgesellschaftliche Bedarf an Gebrauchswerten eingeschmuggelt. Das hat bei Müller System und ist volle Absicht. Dem hat die wiederholte Betonung der Notwendigkeit, dass der gesamtgesellschaftliche Bedarf befriedigt werden muss, auf den einführenden Seiten gedient. Wie jener Begriff in Marx’ Theorie tatsächlich definiert wird, dazu unten mehr. Gehen wir noch einmal zur Seite 44: Hier kommt Müller zum ersten Male auf ein wirkliches theoretisches Problem zu sprechen, nämlich auf die Forderung einiger „Feministinnen“, die „weibliche Umsonstarbeit“ in die marxistische politische Ökonomie hineinzuschreiben. Doch das Problem betrifft nicht nur Frauen. Es soll auch Männer geben, die Hausarbeit leisten.

1.3 Hausarbeit und Wertschöpfung

Auf jenes Ansinnen gibt Müller folgende Antwort: „Die Forderung ist richtig und verständlich, aber überflüssig… Marx hat keineswegs die Reproduktion der zu Hause arbeitenden Frauen ignoriert.“ (44)

Doch diese Antwort geht am polit-ökonomischen Kern jener Forderung vorbei. Dass Hausarbeit, wozu u.a. Lebensmittel zubereiten, Kinder- und Altenpflege gehören, von Marx berücksichtigt wird, weil sie der Reproduktion der Arbeitskräfte dient, ist nur die halbe Wahrheit und besagt im Rahmen der Arbeitswerttheorie betrachtet noch gar nichts. Jenseits von Selbstverständlichkeiten bleibt die folgende Frage: Schafft Hausarbeit ökonomische Werte? Wie die meisten DDR-Ökonomen bestreitet Müller, dass Gebrauchswerte, die nicht für den Markt produziert werden, einen Wert haben. (110 ff.) Also auch die Produkte der Hausarbeit. Sie haben keinen Wert, weil sie nicht „für den Austausch gefertigt werden.“ (111) Müller räumt aber ein, dass solche Produkte in dem Moment, in dem sie auf einem Markt angeboten werden, zur Ware werden und dann auch einen Wert haben: „Doch auch wenn ein Produkt nicht per se mit der Intention produziert wird, es zu tauschen, macht es der anschließende ‚zufällige‘, ‚vereinzelte‘ Tausch, sollte es dazu kommen, zur Ware. Ohne Warenproduktion und Austausch gibt es keinen Wert…“ (114)

Doch wie soll das gehen? Wo kommt denn der Wert der „zufällig“ verkauften Ware auf dem Markt plötzlich her, wenn Produkte, die nicht per se für den Austausch produziert werden, keinen Wert haben? Welcher geheimnisvolle Zauber stattet sie plötzlich mit einem Wert aus, den sie auf dem Weg zum Markt noch nicht hatten? In diesem Punkt unterscheidet sich Müllers Wertbegriff in nichts von dem seines Kontrahenten Michael Heinrich, wonach der Wert „nur aus der Einheit von Produktion und Markt zu erklären“ sei (Heinrich 2022: 138). Wie diese „Einheit“ im Einzelnen aussieht und wie sie funktioniert, dass erfährt man weder bei dem einen noch dem anderen Autor.

Die zweite für den Feminismus relevante Frage lautet: Sind Dienstleistungen, zu denen die meisten Arten der Hausarbeit gehören, wert- und gebrauchswertschaffende Prozesse? Auch in dieser Frage geht Müller wie die meisten Traditionsmarxisten davon aus, dass Dienstleistungen zwar Werte verbrauchen und eventuell auch auf das Produkt übertragen, aber keine schaffen. (102 f.) Seine Antwort auf jene Forderungen ist also nichts anderes als das Trostpflaster, das man den theoretisch interessierten Frauen schon immer aufgetischt hat. Jene von Marx nur schwach beleuchteten Prozesse bleiben im Rahmen der traditionellen Marx-Interpretation im Dunkeln.

Die Konsequenzen der unterschiedlichen Interpretationen sind bedeutend. Die übliche Interpretation lautet: „Frauen- und Kinderarbeit entwerten die Arbeitskraft des Mannes, so Marx.“ Und so sieht es auch Müller (45). Der Grund bestehe darin, dass durch Frauen- und Kinderarbeit der „Wert der Arbeitskraft des Mannes über seine ganze Familie“ verteilt werde. (MEW 23: 417) Doch das kann unmöglich so sein. Werte können erzeugt und übertragen werden. Eine Verteilung von Werten ist auch möglich, aber nur, wenn der Träger des Werts aufgesplittet und verteilt werden kann. Das ist im Fall der Arbeitskraft nicht anzunehmen. Marx’ Darstellung kann deshalb nur in übertragenem Sinn gemeint sein. Mit „entwerten“ meint er wahrscheinlich nichts anderes als eine relative Verringerung des Lohnes des Mannes. Dies ist der Effekt des zusätzlichen Angebots von Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt. Er hat jedoch nichts mit dem Wert der Arbeitskraft des Mannes zu tun, weil dieser nicht vom Lohn abhängt, sondern vom Reproduktionsaufwand, also vom Wert der zur Erhaltung erforderlichen Lebensmittel (nach Marx).

Geht man jedoch begründet davon aus, dass jegliche Arbeit Werte produziert (Quaas 2020a, 2020b), so gilt das auch für die Hausarbeit. An und für sich erhält und erhöht die Hausarbeit den Wert der Arbeitskräfte nicht nur durch den Verbrauch von Lebensmitteln, deren Wert auf die Arbeitskräfte übertragen wird, sondern auch durch eigenständige Wertschöpfung der Hausfrauen, Hausmänner und mithelfenden Kinder. Der Wert der Arbeitskraft ist demnach stets höher als der Wert der Lebensmittel, die für ihre Reproduktion verbraucht werden. Diese theoretische Sicht könnte erklären, warum im entwickelten Kapitalismus die Löhne im Allgemeinen höher als die Konsumausgaben sind. Für die von Marx vermutete Entwertung der Arbeitskraft des Mannes in dem Fall, dass Frauen- und Kinderarbeit in den Fabriken der Unternehmer eingesetzt werden, ergibt sich eine andere Erklärung: Eine gewisse Verringerung des Werts der Arbeitskraft des Mannes kommt dadurch zustande, dass ein Teil der früheren Hausarbeit von der nun Lohn verdienenden Restfamilie nicht mehr geleistet wird. Dieser Verlust betrifft dann aber auch die anderen Arbeitskräfte im Haushalt. Eine realistischere Betrachtung der Vollbeschäftigung eines Arbeiterhaushalts dürfte deshalb darin bestehen, dass ein Teil des vergrößerten Haushaltseinkommens eingesetzt werden muss, um die Defizite im Reproduktionsaufwand und damit den Wertverlust der familiären Arbeitskräfte auszugleichen, die der Wegfall von Hausarbeit nach sich zieht.

1.4 Marx’ Methode(n)

Wenn Marx sagt, dass das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten die wissenschaftlich richtige Methode ist, so setzt Müller dagegen, dass es die Methode der Abstraktion ist (60): Diese Methode sei „der einzig gangbare Weg zur Wahrheit.“ Also: Zurück zu John Lockes Erkenntnistheorie! Dementsprechend versteht Müller unter dem Logischen nicht die im „Kapital“ angewandte Theorie der Dialektik, sondern ein Sammelsurium von wissenschaftlichen Methoden wie „Vergleichen, Analysieren, Abstrahieren, Verallgemeinern, Beweise führen, Schlüsse ziehen, Begriffe definieren, also Theorien suchen und finden…“ (ebd.). Das sind alles Methoden, die wohl jeder Wissenschaftler mehr oder weniger beherrschen sollte, die aber recht wenig, um nicht zu sagen: gar nichts, mit der Spezifik der von Marx entwickelten und angewandten dialektischen Methode zu tun haben. (Quaas 1991) Zum Begriff des Historischen hat Müller gar nichts zu sagen, was über einen abstrakten Geschichtsbegriff hinausgeht, geschweige denn, dass er die von Marx im „Kapital“ realisierte Einheit von Logischem und Historischem als materialistische Umkehrung der Hegelschen Methode darzustellen weiß. Wie es scheint, versteht Müller darunter den realen, geschichtlichen Prozess: „Das Historische ist primär, der Gegenstand existiert vor dessen Verständnis, das Logische ist sekundär.“ (246)

Friedrich Engels hatte ein völlig anderes Verständnis von diesen Kategorien, mit denen er die Frage diskutiert, wie man eine Kritik der Ökonomie am besten darstellt: „historisch oder logisch“. Er kommt zu dem Schluss, dass die „logische Behandlungsweise … allein am Platz“ war. „Diese ist aber in der Tat nichts anderes als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten.“ (MEW 13: 474 f.) Dagegen Müller: „In der logischen Analyse gehen wir vom jeweils höchsten Entwicklungsniveau des untersuchten Objekts aus. In der historischen Analyse gehen wir den umgekehrten Weg.“ (245) Insofern hier Marx’ Methode beschrieben werden soll handelt es sich um reine Fantasie.

Als ehemaliger Lehrer für Philosophie würde ich einem Ökonomen niemals vorwerfen, kaum mehr über Marx’ Methode zu wissen, als dass Logisches und Historisches eine dialektische Einheit bilden (63), doch dann würde ich auch fordern, dass er zu diesem Thema schweigt. Aber wenn sich jemand derart unbedarft äußert, so muss man sich fragen, ob eine Interpretation des Marxschen „Kapital“ inhaltlich korrekt sein kann, die die zugrunde liegende Methode in ihrer Spezifik gar nicht wahrgenommen hat. Fachlich direkt falsche Behauptungen wie, „Marx nutzt die induktive Methode“ (64), es sei ein Fehler, die Reproduktionsschemata auf die Wirklichkeit anzuwenden (68), die Input-Output-Modell würden (ausschließlich oder auch nur dominant) „Verflechtungen zwischen den Güterproduktionen“ darstellen (ebd.) oder dass „formallogische Beziehungen, die in sich schlüssig sind … eines empirischen Nachweises nicht bedürfen“ (69), während es an anderer Stelle heißt: „Die Begriffe, das logische System, das Modell, die Theorie müssen der empirischen Prüfung standhalten“ (72) – solche krassen Fehlurteile und widersprüchlichen Aussagen müssen zurückgewiesen werden. Dazu gehört auch die pseudo-wissenschaftliche Behauptung, dass „die physikalische Zeit … etwas anderes als die politökonomische Zeit“ sei (77). Dazu unten mehr.

1.5 Abstrakte und gleiche menschliche Arbeit

Für Marx ist

„alle Arbeit … einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle Arbeit ist andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form, und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte.“ (MEW 23: 61)

Man sollte meinen, dass diese Aussagen eindeutig sind, doch weit gefehlt! Müller stellt in seinem Buch mehrere in der Literatur vertretene Varianten gegenüber, darunter seine eigene Auslegung. Der Streit betrifft unter anderem den Begriff der abstrakten Arbeit. Unter diesem Aspekt gesehen ist „alle Arbeit“ „Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn“. Diese Eigenschaft der Arbeit wird von Marx noch etwas konkreter beschrieben als „produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.“ (MEW 23: 58.) Aus den Zitaten geht hervor, dass er die Begriffe „gleiche menschliche Arbeit“ und „abstrakt menschliche Arbeit“ synonym versteht. Im Bestreben, seinen Lesern trotz der von der Sache her schwierigen Lektüre verständlich zu bleiben, erläutert Marx des Öfteren einen wissenschaftlichen Begriff – hier „abstrakte Arbeit“ – durch einen verständlicheren umgangssprachlichen Begriff. Beide Begriffe beschreiben das Resultat einer Abstraktion von der konkreten Natur der Gebrauchswerte schaffenden, nützlichen Arbeit:

„Sieht man ab von der Bestimmtheit der produktiven Tätigkeit und daher vom nützlichen Charakter der Arbeit, so bleibt das an ihr, daß sie eine Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ist.“ (Ebd.)

Nimmt man diese Aussagen ernst, so ist klar, dass wir hier eine der wenigen Stellen vor uns haben, in denen Marx seinen allgemeinen Arbeitsbegriff explizit macht. „Alle Arbeit“ ist zwar auch ein historischer Begriff, wenn man bedenkt, dass sich die bewusste und zielgerichtete Produktion und Verwendung von Arbeitsmitteln, die typisch für die menschliche Arbeit sind, erst im Prozess der Ausdifferenzierung des Menschen aus dem Tierreich etabliert hat. Aber nachdem dies geschehen war, können unabhängig davon, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen gearbeitet wird, an ihr jene beiden Eigenschaften beobachtet werden, einerseits nützliche Tätigkeit zu sein, indem sie nützliche Dinge herstellt, und andererseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft zu sein.

Müller macht nun einen bei Marx nicht nachweisbaren Unterschied zwischen der allgemein menschlichen Arbeit und der abstrakt menschlichen Arbeit. (82, 84 ff.) Der Unterschied bestehe darin, dass die allgemein menschliche Arbeit „unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zur abstrakten Arbeit“ werde (85), nämlich dann, wenn die Arbeitsprodukte als Waren produziert oder/und getauscht werden (86, 114). „Erst dann haben die Produkte nicht nur Gebrauchswert, sondern auch Wert, auf dessen Basis sie getauscht werden.“ (Ebd.)

Man kann es auch anders sehen, nämlich so wie Helmut Dunkhase, Peter Ruben, Hans Wagner, Jürgen Kuczynski und andere: Menschliche Arbeit erzeugt generell Produkte, die nützlich sind und einen Wert haben. Der von Marx entdeckte Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit beschränkt sich nicht auf die Lohnarbeit, sondern ist universell. Die Produkte jeglicher menschlichen Arbeit haben die beiden Eigenschaften, nützlich zu sein und einen Wert zu besitzen.

Jenseits einer warenproduzierenden Gesellschaft interessiert es zwar auch, wieviel Arbeit aufgewandt werden muss, um bestimmte Produkte herzustellen, aber da diese nicht getauscht werden, gibt es auch keine Form, in der der Wert erscheinen kann und den Menschen als gegenständliche Eigenschaft ihrer Erzeugnisse zurückgespiegelt wird. Nur unter der Bedingung, dass die Produkte menschlicher Arbeit getauscht werden, bekommt ihr Wert eine Bedeutung für die Akteure und dringt in ihr Bewusstsein ein. – Mir scheint, dass dies die naheliegendste und einfachste Interpretation des Marxschen Textes ist.

Müllers Interpretation macht die Sache unnötig kompliziert, wenn er den historischen Charakter der Marxschen Kategorien ausdrücken will: Demnach wird die allgemein menschliche Arbeit erst unter den Bedingungen der Warenproduktion zur abstrakten Arbeit. (88) Die Eigenschaft der Arbeit, abstrakt zu sein, sei eine qualitative Bestimmtheit, die sie nur unter den Bedingungen der Warenproduktion annehme; die andere, quantitative Seite der Arbeit ist ihre Dauer, genauer: die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die erforderlich ist, um sie herzustellen. Letztere ist – ebenfalls nur unter den Bedingungen der Warenproduktion – nach Müller zugleich der Wert der Ware. (91)

„Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in Waren produzierenden Gesellschaften ist die quantitative Seite des Wertes.“

„Wert ist stets gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, und als solche stets die eine Seite der Ware. Aber nicht jede gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Wert. Sie ist es nur dort, wo Produkte Waren sind.“ (91)

Müller hält in der Tat Wert und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit unter den angegebenen Bedingungen für ein und dasselbe Objekt. Diese Interpretation beseitigt den originären Marxschen Wertbegriff. Der Wert ist nach Marx eine (gesellschaftliche) Eigenschaft von Waren, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist eine Eigenschaft der Arbeitsprozesse, die jene Waren hervorbringen. Beide Eigenschaften können unter keinen Bedingungen identisch sein, da sie an wohlunterscheidbare Objekte – Ding und Prozess – gebunden sind. Philosophisch gesehen begeht Müller einen ontologischen Mismatch. Das Resultat dieser Konfusion ist die Beseitigung des Werts als eine Eigenschaft der Ware durch das absurde Konstrukt der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die generell eine Eigenschaft der Arbeit ist und unter den Bedingungen der Warenproduktion zu einer Eigenschaft der Waren wird.

Den Vertretern der Auffassung, dass jedes nützliche Produkt menschlicher Arbeit im politökonomischen Sinn einen Wert hat, stellt Müller die Frage, „welchen Sinn der Begriff in Gemeinschaften haben könnte, die keinen Handel treiben und sich mit den von ihnen hergestellten Produkten selbst versorgen. Der Wert ein Verhältnis zwischen Jägern und Sammlern, die einer Sippe angehören? Ein Verhältnis Robinsons zu sich selbst? Die Fragen zeigen, dass die Anwendung des Begriffs Wert auf Produktionsverhältnisse außerhalb der Warenproduktion weder notwendig noch möglich ist, es sei denn, man gibt ihm einen neuen Inhalt.“ (114)

Warum es nicht möglich sein soll, den Wertbegriff auf diese Beispiele anzuwenden, darüber erfahren wir nichts. Müller hat insofern recht, als die Anwendung des Wertbegriffs auf die geschilderten Beispiele nicht notwendig ist. Aber seit wann entscheidet die Erklärungsrelevanz eines Begriffes über die Existenz des Objekts, das er widerspiegelt? Dass die Produkte menschlicher Arbeit einen Wert haben, diese Tatsache mag den Menschen in jenen Gesellschaften nur instinktiv bewusst sein und bei der Verteilung der Produkte keine Rolle spielen. Dasselbe trifft aber auch für 99 Prozent der Bevölkerung in kapitalistischen Gesellschaften zu. Der Sinn der universellen Anwendbarkeit des Wertbegriffs ist deshalb woanders zu suchen als in den untersuchten Gesellschaften, nämlich in der Wissenschaft. Der Sinn besteht darin, eine in sich kohärente Theorie für die Analyse jener Gesellschaften zur Verfügung zu haben. Wenn wir akzeptieren würden, dass die Produkte von Selbstversorgern wie Robinson oder wie ein Stamm von isolierten Ureinwohnern keinen Wert haben, diese aber bei einem plötzlichen Kontakt mit der Außenwelt dann doch getauscht werden, so müssten wir annehmen, dass der Wert dieser Produkte wie durch Zauberhand plötzlich in diesem Kontakt entsteht. Das steht im Widerspruch zu der Grundthese der Arbeitswerttheorie, dass ökonomische Werte durch menschliche Arbeit geschaffen werden.

Völlig richtig ist Müllers Interpretation, wenn er gelegentlich bemerkt: „Die abstrakte Arbeit schafft den (neuen) Wert, während die konkrete Arbeit den Wert des konstanten Kapitals auf die neuen Produkte überträgt.“ (322) Der erste Teil des Satzes widerspricht allerdings seiner These, dass die Menge der abstrakten Arbeit, gemessen durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, identisch ist mit der quantitativen Seite des Werts, also der Wertgröße. Denn das würde bedeuten, dass die abstrakte Arbeit eine Eigenschaft der Ware wäre. Sie ist aber ein Aspekt der lebendigen menschlichen Arbeit, die eben jene Eigenschaft der Ware, den Wert, hervorbringt. Abstrakte Arbeit kann sich nicht selbst hervorbringen. Man kann Müllers These, dass die Wertgröße die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, auch herumdrehen: Wäre die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, also das Maß der abstrakten Arbeit, unter den Bedingungen der Warenproduktion zugleich die Wertgröße, dann wäre die Wertgröße auch ein Maß der abstrakten Arbeit. Die abstrakte Arbeit ist aber ein Aspekt der lebendigen menschlichen Arbeit. Also hätte die lebendige menschliche Arbeit einen Wert. – Eine Konsequenz, die Müller sicherlich nicht teilt, denn Arbeit schafft ökonomische Werte, hat selbst aber keinen Wert.

Summa summarum: Wertgröße und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit sind zwei zwar zusammenhängende, aber verschiedene Objekte.

1.6 Müllers politökonomische Zeit

Nach Marx misst sich die Quantität der Arbeit an ihrer Zeitdauer, und diese in Stunden, Tage etc. (MEW 23: 53) Nehmen wir, wie Marx, rein hypothetisch an, Waren würden zu ihren Werten verkauft, und als Beispiel folgende Situation: Ein Korbflechter benötige einschließlich der Vorarbeiten durchschnittlich 3 Stunden reine Arbeitszeit, um einen stabilen Rattankorb marktfertig herzustellen. Nehmen wir weiterhin an, ein Sammler von Waldheidelbeeren benötige durchschnittlich 6 Stunden, um durch Verkauf seiner Ware dasselbe Einkommen zu erzielen wie der Korbmacher. Marx erklärt diese vom Markt verursachte „Ungerechtigkeit“ wie folgt:

„Wie nun in der bürgerlichen Gesellschaft ein General oder Bankier eine große, der Mensch schlechthin dagegen eine sehr schäbige Rolle spielt …, so steht es auch hier mit der menschlichen Arbeit. Sie ist Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen Organismus besitzt. Die einfache Durchschnittsarbeit selbst wechselt zwar in verschiednen Ländern und Kulturepochen ihren Charakter, ist aber in einer vorhandnen Gesellschaft gegeben. Kompliziertere Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so daß ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit.“ (MEW 23: 59)

Inwiefern ist nun das kleinere Quantum komplizierter Arbeit dem größeren Quantum gleichzusetzen? Doch offensichtlich hinsichtlich des Werts der jeweiligen Ware: „Eine Ware mag das Produkt der kompliziertesten Arbeit sein, ihr Wert setzt sie dem Produkt einfacher Arbeit gleich.“ (Ebd.)

Der Korbmacher produziert also in 3 Stunden denselben Wert wie der Waldbeerensammler in 6 Stunden. Müllers Behauptung (77), dass „die physikalische Zeit … etwas anderes als die politökonomische Zeit“ sei (77), hieße dann, dass beide Produzenten die gleiche politökonomische Zeit von 6 Stunden (nur die einfache Arbeit zählt!) benötigen, um ihr jeweiliges Produkt herzustellen. Und diese 6 Stunden wären dann, nach Müller, sowohl die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als auch, wegen der von Müller postulierten Identität von gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit und Wert unter den Bedingungen der Warenproduktion, der Wert der beiden Waren.

Allerdings gibt es keine einzige Stelle im „Kapital. Erster Band“, die belegt, dass Marx einen Unterschied zwischen physikalischer und politökonomischer Zeit macht. Der von Marx im Vorwort zur ersten Auflage niedergelegte Vergleich seiner Beobachtungsmethode mit dem Vorgehen der Naturwissenschaft legt vielmehr nahe, dass er sich an den damals herrschenden Rationalitätsstandards orientiert. Wenn Marx also „Stunde“ sagt, ist wohlbegründet anzunehmen, dass er die moderne, unveränderliche Stunde und nicht die bis zum Mittelalter gebräuchliche dehnbare Stunde der Kirche meint. (Vgl. zur Entwicklung des Zeitbegriffs Pohl 1955: 145 ff.) Wissenschaftlich gesehen gibt es keine andere Stunde als die, die mit einer Uhr gemessen werden kann. Womit und wie sollte man auch eine „politökonomische Stunde“ messen? Mit der Wertgleichheit zweier Waren? Das würde die Dinge auf den Kopf stellen, denn es geht Marx ja gerade darum, die Wertgleichheit trotz unterschiedlich langer Arbeitszeiten zu erklären. Müllers Postulat einer politökonomischen Zeit würde der Arbeitswerttheorie die rationale Basis entziehen.

Um an dieser Stelle einem leicht vorhersehbaren Gegenargument vorzubeugen: Ich behaupte keinesfalls, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wie in Adolf Henneckes Propaganda-Aktion mit einer Uhr gemessen werden kann. Da es sich bei der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit um eine Durchschnittsgröße handelt, muss sie mit vielen Uhren gemessen werden, und zwar in allen Arbeitsprozessen, die die gleiche Ware herstellen. Die dann noch erforderliche Durchschnittsbildung wird von Marx auch mit Blick auf andere polit-ökonomische Objekte vielfach erwähnt, auch wenn er sie mathematisch nicht explizit ausführt.

Der grundlegende Fehler Klaus Müllers besteht in diesem Zusammenhang darin, das politökonomische Objekt „Wert“, das eine Eigenschaft der Ware ist, mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zu identifizieren, die eine Eigenschaft von Arbeitsprozessen ist, wenn sie unter gesellschaftlich „normalen“ Bedingungen verrichtet werden.

1.7 Erste und zweite Vergegenständlichung

Hier ein kleiner (!) Auszug aus den zahlreichen Aussagen, die Müller über den Wert macht:

„Der Wert ist ein Produktionsverhältnis, seine Größe ist die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit.“ (126)
„Wertrechnungen sind Arbeitszeitrechnungen.“ (133)
„Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gibt den Wert der Ware an, sie beziffert ihn, offenbart ihn, sie ist die Wertgröße.“ (136)
„Der Wert ist geronnene, vergegenständlichte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit.“ (139)
„Der volle Arbeitskoeffizient ist die Summe aus direkter und indirekter Arbeitszeit für eine Outputeinheit. Er stellt die Wertgröße dar.“ (146)
„Die volle Arbeitszeit ist die Wertgröße.“ (162)
„Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, d.h. die Wertgröße, ist die Quantifizierung des Produktionsverhältnisses.“ (219)
„Der Wert der Ware kann nicht direkt als Arbeitszeit erscheinen, sondern muss sich eine Form geben, um sichtbar zu werden.“ (221)
„Eine Ware kann ihren Wert, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, nicht direkt ausdrücken.“ (242)

Müller formuliert mit seinem Wertbegriff eine Arbeitszeitrechnung, die er nicht nur Marx unterstellt, sondern der gesamten ökonomischen Klassik. (430) Daneben hat er noch einen zweiten Wertbegriff, der im Rahmen der Rententheorie gelten soll:

„Der Wert, verstanden als gesellschaftlich notwendiger Arbeitsaufwand zur Herstellung der Produkte, ist aufgrund der Besonderheiten in der Landwirtschaft, in der extraktiven Industrie und auf Baustellen … anders bestimmt als in der Industrie, wo die wichtigsten Ressourcen vermehrbar sind und Kapital zwischen den Zweigen hin und her fließen kann.“ (408)

Auf welch’ schwachen Füßen Müllers Identifikation der beiden Eigenschaften „gesellschaftlich notwendige Dauer der Arbeit“ und „Größe des Werts einer Ware“ steht, demonstriert er selbst, indem er seinen Wertbegriff aus der umgangssprachlichen Vieldeutigkeit des Begriffs „bestimmen“ ableitet. (135) Dabei ist ihm völlig entgangen, dass hierfür andere Begriffe maßgebend sind, zum Beispiel der Begriff der Vergegenständlichung, der für Marx eine derart fundamentale Bedeutung hatte, dass er sowohl im Früh- als auch in seinem Spätwerk eine prägende Rolle spielt.

Während es in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ noch sehr allgemein um die Vergegenständlichung der menschlichen Wesenskräfte in den Resultaten ihrer Tätigkeit geht, führt jener Begriff bei der Definition des Arbeitsprozesses als eine wissensgeleitete Realisierung von vorgegebenen Zwecken die Regie. Materialistisch ergänzt wird der Marxsche Arbeitsbegriff damit, dass die Produkte menschlicher Arbeit nicht nur eine Vergegenständlichung menschlicher Fähigkeiten, menschlichen Wissens und Wollens sind, sondern auch eine Umformung von Gegenständen, die eigenen Gesetzen gehorchen (insofern ist Wissen und eine ständige Korrektur vermeintlichen Wissens erforderlich). Dass die nützlichen Produkte menschlicher Arbeit eine Vergegenständlichung eben dieser Arbeit sind, wird auch einem Traditionsmarxisten einleuchten. Was Müller dabei aber übersieht, ist, dass dabei der Wert als quantitative Eigenschaft des Produkts ebenfalls „vergegenständlicht“ wird: Die Ware hat einen Wert, weil ihre Produktion eine gesellschaftlich, d.h. durch die Produktionsverhältnisse, bestimmte Arbeitszeit erfordert. Der Satz, dass die Ware eine gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit hat, ist unsinnig. Und weil Müller den Wert mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit identifiziert, übersieht er die erste, primäre Gegenständlichkeit des Werts als Eigenschaft der Ware.

Warum spreche ich hier von einer ersten Vergegenständlichung? Weil es eine zweite gibt: Es ist die Erscheinung des Werts im Gebrauchswert einer anderen Ware. Diese Erscheinung liegt im Tauschwert vor. Wenn Marx den Tauschwert beispielsweise durch den Wertausdruck „x Ware A ist y Ware B wert“ darstellt, so setzt er voraus, dass sowohl die Ware A als auch die Ware B bereits einen Wert haben, dass sich also die Arbeit schon als gesellschaftliche Eigenschaft der Ware vergegenständlicht hat.

Müllers Ignoranz gegenüber der ersten Vergegenständlichung der Arbeit als Eigenschaft einer Ware schwächt seine Position gegenüber Heinrich. Letzterer behauptet z. B. in seinem Buch „Die Wissenschaft vom Wert“, dass die abstrakte Arbeit „erst durch den Tausch zustande komme“ (Heinrich 2003, 208 f.) Da die abstrakte Arbeit Grundlage des Werts ist, gilt Heinrichs Behauptung auch für den Wert. Konsequent zu Ende gedacht: Der Wert entsteht wie durch Zauberhand, sobald Waren getauscht werden. Neuerdings versucht Heinrich, seine klaren Aussagen zu diesem Thema zu relativieren.

Bedenkt man, dass der Tauschwert tatsächlich erst im Austausch entstehen kann, so kommt man um die Vermutung nicht herum, dass Heinrich keinen Unterschied zwischen dem Wert und dem Tauschwert einer Ware macht. Dann wäre es tatsächlich so, dass der Wert zugleich mit dem Tauschwert entsteht. Müller weist richtig darauf hin, dass der Wert im Tauschwert nur erscheint und dass die Erscheinung von Etwas die Existenz dieses Etwas voraussetzt. Im Rahmen einer Marx-Interpretation, in der die Existenz des Werts als ein vom Tauschwert und von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit verschiedenes Objekt angenommen werden kann, ist das ein starkes Argument. Aber Müller, der die erste Vergegenständlichung der wertbildenden Arbeit damit unkenntlich macht, dass der Wert nichts anderes als gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, muss seinen theoretischen Kontrahenten notgedrungen recht geben: „Heinrich und Wolf haben Recht: Wertgegenständlichkeit gibt es erst im Austausch.“ (126) Falsch! Die erste Wertgegenständlichkeit ist der Wert selbst. Sie kommt vor dem Austausch zustande.

Da es für Müller ein separates Objekt „Wert“ nicht gibt, ersetzt er in seinen wirtschaftstheoretischen Darstellungen die Wertrechnung durch eine Arbeitszeitrechnung. Seine Interpretation stellt eine pseudo-marxistisch begründete Negation des Werts als ein selbständiges politökonomisches Objekt der Arbeitswerttheorie dar.

1.8 Wert und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit

Akzeptiert man dagegen, dass gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit und Warenwert zwei verschiedene Objekte, genauer: zwei verschiedene politökonomische Größen sind, so braucht man nur bei Marx nachzulesen, um zu erkennen, dass sie in einer recht einfachen mathematischen Beziehung stehen, so dass „kompliziertere Arbeit … als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit“ gelten darf. Die einfachere der beiden von Marx hier erwähnten Beziehungen ist die multiplikative, also die Beziehung „Wertprodukt = Faktor x gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“, letztere gemessen in Stunden, Tagen, etc. Dass es sich nicht um eine Potenzfunktion, sondern um eine lineare Beziehung handelt, die Marx im Sinn hatte, diese Vermutung stammt von dem international bekannten Marxforscher Jindrich Zelený (1968: 145). Ich habe bereits in den 80er Jahren in mehreren Artikeln, die in der auch Klaus Müller wohlbekannten DDR-Zeitschrift „Wirtschaftswissenschaft“ erschienen sind, gezeigt, dass man mit diesem Ansatz alle Passagen im „Kapital“ rekonstruieren kann, in denen Marx das Verhältnis von Wertprodukt und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit thematisiert. Zusammengefasst wurden diese Arbeiten in Quaas (2016). Müller hat weder damals noch in den vielen Jahren bis heute auch nur in einem einzigen Fall zeigen können, dass diese Interpretation in irgendeinem Sinn eine Fehldeutung ist. Vielmehr hat er in der Diskussion stets betont, dass man die Dinge so wie ich sehen kann. So auch in diesem Buch. (134) Als Bürger hat Müller das Recht, frei erfundene Behauptungen über mich („Philosoph und Mathematiker“) und über mein Modell („verquer“, „falsche begriffliche Grundlagen“) aufzustellen. Wissenschaftliche Redlichkeit würde aber erfordern, sich unter anderem mit meiner ausführlichen Analyse des Marxschen Begriffs des Gebrauchswerts oder mit der Darstellung der dialektischen Methode in meiner Habilitationsschrift auseinanderzusetzen, und sie nicht im alten Stil der marxistischen Auseinandersetzung mit der „bürgerlichen“ Ökonomie einfach abzuurteilen.

1.9 Messung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit

Müller vertritt trotz seiner Erfindung einer nicht messbaren polit-ökonomischen Zeit die Auffassung, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit messbar ist. Den Zweiflern begegnet Müller mit dem Argument, dass die abstrakte Arbeit gemessen werden kann, „wenn die individuelle Arbeit unter den ‚gesellschaftlich normalen Bedingungen‘ geleistet wird. Das mag Zufall sein, aber darauf kommt es nicht an…“ (92) Doch, darauf kommt es an! Denn eine Messung der Arbeitszeit, bei der nicht bekannt ist, dass gesellschaftlich normale Bedingungen vorliegen, ist für die Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit völlig wertlos.

Um die Arbeitswerttheorie in diesem Punkt auf eine rationale Basis zu stellen, ist eine realistische Möglichkeit aufzuzeigen, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auch in einer kapitalistischen Volkswirtschaft zu messen. Diese Möglichkeit besteht darin, ganze Industriezweige zu betrachten und nicht nur einzelne Produktionsstätten. Die von einem Industriezweig in summa entwickelte Produktivität der Arbeit definiert das, was zu einem gegebenen Zeitpunkt als „gesellschaftlich normale“ Produktivität und Intensität der Arbeit angesehen werden muss. Stimmt die Produktivität eines einzelnen Arbeitsprozesses mit der des entsprechenden Industriezweiges überein, ist die aufgewandte Arbeitszeit für eine bestimmte Produktenmenge nichts anderes als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Stimmt die Produktivität eines einzelnen Arbeitsprozesses nicht mit der des ganzen Zweiges überein, gilt Müllers Phänomen-Beschreibung:

„Wer drei Stunden konkrete Arbeit leistet, um einen Stuhl herzustellen, für den unter normalen Bedingungen der Produktivität, der Intensität und des Geschicks zwei Stunden nötig sind, hat sich zwar drei Stunden angestrengt, aber der Umfang seiner abstrakten, d. h. wertbildenden Arbeit beträgt nur zwei Stunden.“ (95) Dieses Phänomen ergibt sich einfach aus der Tatsache, dass bei einer Durchschnittbildung die einzelnen Messgrößen sowohl darunter als auch darüber liegen können. Müllers Ergänzung der Marxschen Theorie mit einer verschwurbelten politökonomischen Zeit ist überflüssig.

Die Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit auf der Grundlage einer Durchschnittbildung ist nicht mehr möglich, wenn man einen Unterschied zwischen der messbaren physikalischen Zeit und einer nicht messbaren politökonomischer Zeit macht, die von irgendwelcher „Anerkennung“ abhängt. (95) Doch logische Konsequenz ist in Müllers Darstellung selten zu finden. In seinem Beispiel zur Berechnung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit operiert er – mit der physikalischen Zeit. Müller kennt Marx’ Definition der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit ganz genau, in der allein die Produktionsbedingungen berücksichtigt werden. Mit dem Begriff der „dominierenden Produktionsbedingungen“ kommt Müller nahe an die oben skizzierte Durchschnittbildung heran (106), aber er zieht daraus keine Konsequenzen für seine Interpretation des Begriffs der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Er will unbedingt den gesamtgesellschaftlichen Bedarf in jenen Begriff einbezogen wissen: „Diese Größe besagt, wieviel Arbeitszeit der Produzent in einer gemeinschaftlichen, arbeitsteiligen Produktion für seine Waren aufwenden und damit von der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Gesamtarbeitszeit beanspruchen darf.“ (93, 106, 128) Was damit genau gemeint ist, macht das stützende Zitat (MEW 32: 552 f.) deutlich: Es geht darum, dass sich in einer warenproduzierenden Gesellschaft letztlich eine Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf die verschiedenen Industriezweige durchsetzt, die dem gesellschaftlichen Bedarf entspricht. Müller meint, dass dieser Aspekt in Marx’ Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit berücksichtigt werden muss. „Beim Wert geht es auch um objektive Proportionen zwischen den Güterproduktionen.“ (130) Müller bemerkt nicht, dass diese Behauptung der Marxschen Definition der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit widerspricht.

„Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.“ (MEW 23: 53)

Keine einzige Bestimmung in dieser Definition rekurriert auf die gesamtgesellschaftliche Bedürfnisstruktur und -menge der Gesellschaft. Müller stört das wenig, denn für ihn ist diese Definition nur etwas Hinzukommendes (130). Wäre es so, müsste es im „Kapital“ eine Definition geben, die Müllers Begriff belegt. Die gibt es aber nicht und deshalb wird er auch in Zukunft einen Beleg für die Stichhaltigkeit seiner Interpretation schuldig bleiben.

Heißt das nun, dass die Verteilung der Gesamtarbeit auf die verschiedenen Industriezweige dem gesamtgesellschaftlichen Bedarf entsprechend im „Kapital“ nicht berücksichtigt wird? Dieser Aspekt der gesellschaftlichen Notwendigkeit wird an anderer Stelle des „Kapital“, nämlich in der Preistheorie, einbezogen. Marx steigt bekanntlich vom Abstrakten zum Konkreten auf, eine Methode, von der Müller nichts zu sagen weiß, mit der aber eben jenes „architektonisch beeindruckende Gebäude“ (104) von Begriffen, Kategorien, Definitionen und Aussagen geschaffen wurde. Um die gesamtgesellschaftliche Nachfrage systematisch einbeziehen zu können, musste Marx erst eine Reihe von Kategorien einführen, die notwendig sind, um den Ort thematisieren zu können, auf dem Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen. Das ist der Markt.

1.10 Marx’ Preistheorie

Marx (MEW 23: 121 ff.) unterstellt als Beispiel einen Leinweber, der „auf sein Produkt nur den gesellschaftlich notwendigen Durchschnitt von Arbeitszeit verausgabt“ hat. Und, um die Sache auf den Punkt zu bringen, spitzt Marx zu: Nicht nur ein einziger Leinweber hat unter normalen Bedingungen produziert:

„Gesetzt endlich, jedes auf dem Markt vorhandne Stück Leinwand enthalte nur gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Trotzdem kann die Gesamtsumme dieser Stücke überflüssig verausgabte Arbeitszeit enthalten. Vermag der Marktmagen das Gesamtquantum Leinwand, zum Normalpreis von 2 sh. per Elle, nicht zu absorbieren, so beweist das, daß ein zu großer Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit in der Form der Leinweberei verausgabt wurde. Die Wirkung ist dieselbe, als hätte jeder einzelne Leinweber mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auf sein individuelles Produkt verwandt.“

Man beachte, dass Marx im letzten Satz den Konjunktiv verwendet: Trotzdem ein zu großer Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit in der Form der Leinweberei verausgabt wurde, hat jeder Leinweber nur gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verbraucht! Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man sich an Marx’ Definition hält: Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit hat nicht das Geringste mit der Notwendigkeit zu tun hat, einen bestimmten gesellschaftlichen Bedarf zu befriedigen. Die Wirkung der am Bedarf gemessen überflüssigen Produktion besteht darin, dass die auf dem Markt angebotene Leinwand unter dem Normalpreis verkauft werden muss. Die Verringerung des Preises ändert aber nichts daran, dass für jedes Stück Leinwand exakt die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aufgewandt worden ist. Die Nachfrage verändert somit den Preis, aber nicht die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit und damit auch nicht den Wert der Leinwandstücke.

An dieser Stelle der theoretischen Darstellung spielt die Anerkennung des Werts durch die Käufer eine Rolle: Im Beispiel wird der produzierte Wert der Leinwand auf dem Markt nicht voll anerkannt. Der (gesunkene) Preis stellt dann nicht den Wert, sondern einen davon verschiedenen Marktwert der Leinwand dar.

Man sollte meinen, dass ein marxistischer Ökonom die Marxsche Preistheorie, die sich noch im Rahmen der einfachen Warenproduktion bewegt, kennt. Doch weit gefehlt! Hier ist, was Müller zu diesem Thema zu sagen hat: „Trivial … ist, dass die Tauschrelationen bestimmt werden durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Mit ihren mathematischen Spielchen gelangt die Neoklassik zu manch brauchbaren, praktikablen Einsichten. Die Klassiker, darunter Marx, interessierten sich wenig für derart Banales.“ (128)

Wenn die Tauschrelationen in der Praxis von Angebot und Nachfrage bestimmt werden, so ist es für eine Theorie, die im Unterschied dazu den Wert als grundlegendes Gesetz des Warentausches proklamiert, keineswegs „banal“ und schon gar nicht „trivial“, die Phänomene Angebot und Nachfrage in die Werttheorie zu integrieren. (Quaas 2017) Und weil das so ist, hat Marx die Brücke zwischen den Werten und den von Angebot und Nachfrage bestimmten Preisen in seiner Preistheorie geschlagen. Daraus kann man u.a. eine Monopoltheorie ableiten, die erklärt, wie es zu einer dauerhaften Abweichung des Preises einer Ware von ihrem Wert kommen kann. Ein Beispiel dafür liefert Marx Theorie der Rente. Was hat Müller dazu zu sagen? „Die Preise schwanken um die Wertgrößen in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage.“ (128) Mit Verlaub: Das ist weniger als die von Müller geschmähten „bürgerlichen Ökonomen“ zu sagen haben.

Um glaubhaft zu machen, dass die gesellschaftliche Gesamtarbeitszeit und insbesondere der Anteil, der von ihr auf die Produktion eines bestimmten Produkts verwandt worden ist, in den Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit einbezogen werden muss, führt Müller drei oder vier Zitate an, darunter folgendes: „Das Ganze verkauft sich daher nur, als ob es in der notwendigen Proportion produziert wäre.“ (MEW 25: 649) Stilistische Feinheiten wie der Konjunktiv scheinen für Müller nicht zu existieren. Marx thematisiert hier den Verkauf eines Produkts, also exakt die Situation, die er im ersten Band des „Kapital“ analysiert. Müllers eigenes Zitat belegt den Unterschied zwischen Wertstruktur und Preisstruktur: Das Produkt wird aufgrund seines Preises verkauft, „als ob es in der notwendigen Proportion produziert wäre“. Diese Aussage macht nur Sinn, wenn es tatsächlich nicht in der notwendigen Proportion produziert worden ist.

Wäre es richtig, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit von der Proportionalität der Gewerke einer Volkswirtschaft abhängt, so wäre eine Korrektur der Wertverhältnisse durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Markt weder notwendig noch möglich: Abgesehen von zufälligen Schwankungen, würden die Preise immer mit den Werten übereinstimmen. Im Widerspruch zu dieser Konsequenz seiner Marx-Interpretation behauptet Müller völlig korrekt: „Preise weichen in Abhängigkeit vom Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage vom Wert ab.“ (195, ähnlich 299) Aber wie, das verrät er nicht. Er hätte die logische und mathematische Struktur der Marxschen Lösung des Problems in mehreren Veröffentlichungen nachlesen können (Quaas 1984, 2016, 2017).

1.11 Der Begriff des Marktwerts

Groß ist Müllers Rätselraten, was Marx wohl mit dem Begriff des Marktwertes gemeint haben könnte. (178 ff.) Seine Erklärung des Unterschieds zwischen „Wert“ und „Marktwert“ lautet so:

„Im ersten Band des ‚Kapital‘ behandelt Marx die Produktion des Werts, definiert ihn vom Standpunkt seiner Entstehung und spricht daher folgerichtig noch nicht vom Marktwert. Im dritten Band behandelt Marx die Realisierung des Werts, beschreibt wie sich der in der Produktion gebildete Wert, der den Akteuren unbekannt ist, auf dem Markt durchsetzt und bezeichnet diesen jetzt als Marktwert. Er unterstellt dabei aber die Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage.“ (179)

Wie im letzten Abschnitt gezeigt, stellt der Preis bei einem Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage einen „Marktwert“ dar, der vom wirklichen Wert abweicht. Müllers Problem bei der Abgrenzung des Begriffes „Marktwert“ entspringt daraus, dass seiner Meinung nach „sowohl der Wert als auch der Marktwert das Angebots-Nachfrage-Verhältnis“ einschließen (179). Dann wird der Unterschied, den Marx in seiner Preistheorie zwischen Wert und Preis macht (MEW 23: 121 ff.), wegdekretiert. Der Preis stellt den Wert dar, der auf dem Markt anerkannt wird. Das kann man den „Marktwert“ nennen, auch wenn Marx im ersten Band des „Kapital“ diese Bezeichnung nicht benutzt. Ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage ungleich 1, weicht der Marktwert vom produzierten Wert ab. Mit Hilfe dieses Begriffes wird die Arbeitswerttheorie nicht, wie Müller behauptet, „auf Abwege“ geführt und „komplizierter“ gemacht als nötig, sondern der Mechanismus dargestellt, wie sich das Wertgesetz in der Zirkulationssphäre durchsetzt.

1.12 Einfache und kapitalistische Warenproduktion

Ich stimme Müller zu, dass auf den ersten Seiten des „Kapital“ die allgemeinen Merkmale der kapitalistischen Ware dargestellt werden, ohne dass die Spezifik der kapitalistischen Warenproduktion eine Rolle spielt. Es handelt sich um jene Sachverhalte, die auch in jeder vorkapitalistischen Warenproduktion präsent sind. Überraschenderweise behauptet Müller, dass die einfache Warenproduktion „frei von Ausbeutung“ sei. (120) Es wäre allerdings sehr merkwürdig, wenn eine Warenproduktion, die eingebettet in vorkapitalistische Gesellschaftsformationen ist, die aus der Sicht von Marx überwiegend Ausbeutergesellschaften waren, selbst frei von Ausbeutung sein sollte. Doch auch wenn dies zuträfe: Darauf kommt es gar nicht an! Der Ausgangspunkt „einfache Warenproduktion“ ist notwendig, um, wie Marx selbst bekundet, das Geldrätsel zu lösen. Klarerweise kann man die funktionale Notwendigkeit und Entstehung des Geldes nicht erklären, wenn man die Existenz des Geldes bereits voraussetzt. Deshalb haben alle diejenigen Marx-Interpreten recht, die die einfache Warenproduktion vor allem durch den geldlosen Tausch von Produkten menschlicher Arbeit charakterisieren. Allerdings kann man darin keine Definition der einfachen Warenproduktion sehen, da in Marx’ Darstellung der geldlose Warentausch in einen Warentausch mit Geld und in eine Spaltung des Austausches von Waren in die beiden separaten Prozesse Verkauf und Kauf übergeht.

1.13 Nochmals: Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit

Müller hält mein mathematisches Modell für „verquer“, stellt dann aber die gleichen mathematischen Zusammenhänge dar, die von mir bereits vor 40 Jahren als Verallgemeinerung der quantitativen Strukturen im „Kapital“ publiziert worden sind. Allerdings nur einige dieser Zusammenhänge. Ein stimmiges Modell für alle quantitativen Verhältnisse hat er ja nicht. Für die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit hatte ich 1984 folgende Formel publiziert:

In Worten: Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit t(A) des Arbeitsprozesses A, in dem nicht nur ein einzelnes Stück, sondern die Warenmenge a hergestellt wird, ergibt sich durch Multiplikation dieser Warenmenge a mit dem Quotienten aus der insgesamt im betreffenden Industriezweig aufgewandten Arbeitszeit durch die in ihm insgesamt hergestellte Menge. Der Quotient ist hier nichts anderes als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit pro Stück.

Müller liefert ein Beispiel, in dem drei Produzenten einer Ware x zusammen 150 Stück herstellen und dafür 860 Stunden benötigen. Wendet man darauf die obige Formel an, erhält man für die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit:

Das ist dasselbe Ergebnis, zu dem auch Müller kommt. (131) Er unterstellt zunächst, dass das Angebot der Nachfrage entspricht, spielt dann aber den Fall durch, dass bei gleichbleibender Nachfrage nur 100 Stück produziert worden sind. Dann „könnte man annehmen, dass der Preis (ausgedrückt in Arbeitsstunden) auf

stiege.“ (Ebd.)

Erstaunt stellt man fest, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit nun nicht nur identisch ist mit dem Wert, sondern auch noch mit dem Preis. Was für ein Hickhack! Zwar hat es im Rahmen eines Modells, das homogene Arbeit betrachtet, einen Sinn, Werte in einer Zeiteinheit anzugeben, aber welchen Sinn haben Preise, ausgedrückt in Stunden pro Stück? Sie können vielleicht mit den von Marx kritisierten Stundenzetteln bezahlt werden. Mit Marx hat das aber nichts mehr zu tun.

Man erinnere sich an Marx’ Kritik der Stundenzettel, die Müller zwar reflektiert, von der er aber nur die Nichtberücksichtigung des Unterschieds zwischen individueller und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit als Fehler reflektiert. (275 ff.) Doch es stellen sich noch einige weitere Fragen: Was ist mit dem Wert der Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel? Bekommt der Besitzer eines Windrades nach einem Jahr die Anzahl der Stunden bescheinigt, die sich sein Rad drehen durfte? Wie schlägt sich komplizierte Arbeit in den Stundenzetteln nieder? Wie wird die Intensität der Arbeit berücksichtigt?

Da für Müller Wert und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit identisch sind, hat er keine andere Möglichkeit, als die komplexen Verhältnisse, die den Wert einer Ware bestimmen, in die „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ zu projizieren. Wie wir gesehen haben, ist dann bei ihm die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zugleich auch der Preis. Was in Müllers Darstellung der Arbeitswerttheorie fehlt, ist ein begrifflich und mathematisch korrekter Übergang von der Wertstruktur in die Preisstruktur. Aber abgesehen von seinen reduktionistischen Vorstellungen über den Zusammenhang von Arbeit, Wert und Preis, entspricht die von ihm in seinen Beispielen unterstellte mathematische Struktur dem, was ich bereits 1984 in der „Wirtschaftswissenschaft“ über die Modifikation der Wertstruktur beim Übergang zu einer Preisstruktur geschrieben habe: Die Werte werden mit dem Quotienten zwischen zahlungskräftiger Nachfrage und Angebot multipliziert. Das Verhältnis ist in dem obigen Beispiel 150:100 = 1,5 – und so stellt auch Müller das quantitative Verhältnis zwischen Werten und Preisen dar – nach 40 Jahren Nachdenkens. Seine Vorstellungen sind in diesem Punkt rein rechnerisch richtig, aber hinsichtlich der korrekten Unterscheidung der Marxschen Kategorien eine Katastrophe.

Man darf also davon ausgehen, dass Müller keine tragfähige alternative Darstellung liefern kann. Kommen wir nun zu dem angrenzenden Problem der Proportionalität zwischen Werten und gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeiten unterschiedlicher Waren.

1.14 Proportionalität von Wert und Arbeitszeit

Diese Proportionalität existiert für Müller nicht, weil ja die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit unter den Bedingungen der Warenproduktion nichts anderes als der Wert ist. In Quaas (2021: 77) ist auf folgendes Problem hingewiesen worden:

„Wenn Arbeitszeit und Wert identisch wären, hätte folgende Proportionalität keinen Sinn: ‚Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder anderen Ware wie die zur Produktion der einen notwendige Arbeitszeit zu der für die Produktion der anderen notwendigen Arbeitszeit.‘ (MEW 23, 54) Folgt man Müllers Auffassung und setzt überall dort, wo „Wert“ steht, „Arbeitszeit“ ein, wird Arbeitszeit mit derselben Arbeitszeit verglichen: die Proportionalität fällt in sich zusammen.“

Nach drei Jahren Bedenkzeit hat Müller folgende Antwort gefunden:

„Der ‚härteste Brocken‘ scheint dieser Satz zu sein: ‚Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder anderen Ware wie die zur Produktion der einen notwendige Arbeitszeit zu der für die Produktion der anderen notwendigen Arbeitszeit.‘ (MEW 23, 54) Quaas bezieht sich darauf, den unmittelbar folgenden Satz – ‚Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit‘ – allerdings unterschlagend, und schlussfolgert: ‚Folgt man Müllers Auffassung und setzt überall dort, wo ‚Wert‘ steht, ‚Arbeitszeit‘ ein, wird Arbeitszeit mit derselben Arbeitszeit verglichen: die Proportionalität fällt in sich zusammen.‘ (Quaas 2021: 77) Scheinbar überzeugend.“ (Müller 2024: 136)

Bevor fortgefahren wird: Warum sollte man einen Satz, der exakt im Sinne meiner Interpretation Unterschied und Zusammenhang zwischen der Arbeitszeit, die die Herstellung einer Ware kostet, und dem Wert dieser Ware, darstellt, in einem Kontext hinzufügen, in dem die Verhältnisse zwischen zwei Waren thematisiert werden? Müller meint wahrscheinlich, ich könnte jenem Satz nicht zustimmen. Doch da irrt er sich, denn ein Maß für etwas ist nicht identisch mit diesem Etwas. – Doch weiter im Text!

„Tatsächlich ist es naheliegend, wie Quaas zu schließen, dass sich der Wert einer Ware zu dem einer anderen verhielte wie etwas anderes zu etwas anderem, ergo die Identität der beiden Kategorien Wert und Arbeitszeit ausgeschlossen werden müsse.“ (136)

Müller erläutert hier den Sinn einer Proportionalität – der m. W. n. auf dem mathematischen Niveau der fünften oder sechsten Klasse einer allgemeinbildenden Schule liegt. Falsch wäre es, wenn Müller meinen sollte, dass ich daraus auf den Unterschied zwischen Wert und Arbeitszeit geschlossen habe. Dafür gibt es stichhaltigere Gründe, die man in Quaas 2016 nachlesen kann. Aber er hat recht: Die Proportionalität der vier Größen schließt eine Identität des Wertes mit der Arbeitszeit aus. Deshalb sucht Müller nun verzweifelt ebenfalls nach einem kleinen Unterschied, ohne zu bemerken, dass er damit anfängt, von seinem Identitätspostulat abzurücken:

„Doch kann man dem Vergleich nicht nur einen deterministischen, sondern auch einen definitorischen Bezug unterlegen?“

Eine Proportionalität zwischen vier Größen hat an sich nichts mit einem deterministischen Verhältnis, also mit Ursache und Wirkung, zu tun. Und erst recht nichts mit einem „definitorischen Bezug“. Um dem Leser verständlich zu bleiben: Was Müller hier wirklich meint, ist die Beziehung zwischen Wert und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, die er als Definition interpretiert, von der ich aber behaupte, dass sie das Kernstück jeder Arbeitswerttheorie ist, weil in diesen Theorien (Petty, Ricardo, Smith, Marx) behauptet wird, dass der Wert der Waren allein durch die menschliche Arbeit hervorgebracht wird und dass demgemäß die Größe des Werts von der Menge der Arbeit abhängt, die in Zeiteinheiten gemessen wird. Folgt man Müllers Interpretation, müsste Marx an den vielen Stellen im „Kapital“, an denen er sagt, dass die Arbeitszeit den Wert bestimmt, ständig seine Definition des Wertes wiederholen. Was für eine absurde Idee! Hatte Marx Alzheimer als er „Das Kapital. Erster Band“ schrieb, sodass er seine „Definition“ ständig wiederholen musste? So etwa 2 Dutzend Male? Wohl kaum! Für die vielen Wiederholungen gibt es einen anderen Grund: Es geht um die Erklärung zahlreicher Phänomene mit Hilfe des Kernstücks der Arbeitswerttheorie.

Hier nun Müllers Einführung eines Unterschiedes zwischen Wert und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, der kein Unterschied sein darf:

„Dafür spricht der Sinn, der sich ergibt, wenn man den erwähnten Folgesatz in die Interpretation einbezieht: Die Werte (= festgeronnene Arbeitszeiten, Arbeitszeiten ‚in Ruhe‘) verhalten sich zueinander wie die tatsächlich verausgabten Arbeitszeiten bei der Produktion der Waren (Arbeitszeiten ‚in Bewegung‘).“ (136)

Ich hätte nichts dagegen, die Wertgröße als Arbeitszeit „in Ruhe“ und die gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeiten als Arbeitszeiten ‚in Bewegung‘ zu beschreiben, wenn das metaphorisch gemeint ist und wenn homogene Arbeit betrachtet wird. Was wird damit anderes ausgedrückt, als dass der Wert eine Eigenschaft der Ware ist, während die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit eine Eigenschaft des zugrunde liegenden Arbeitsprozesses ist? Aber warum sollte man diese Beziehung metaphorisch ausdrücken, wenn es auch ganz rational geht, indem man den ontischen Unterschied der Sachverhalte akzeptiert, die diese beiden Kategorien ausdrücken? Der Wert „ruht“, weil er eine Eigenschaft der Ware ist, die Arbeitszeit drückt dagegen das Maß der Bewegung, d. h. der lebendigen Arbeit aus, die jenen Wert hervorgebracht hat.

Philosophisch gesehen hat die Zeit drei Aspekte: Zeitpunkt, Zeitfluss und Zeitdauer. (Quaas 2023) Müllers Interpretation ist insofern unwissenschaftlich, als sowohl der Wert als auch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit nichts anderes sind als eine Zeitdauer. Solange die Arbeit noch von statten geht, hat man keinerlei Kenntnis über die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Der Arbeitsprozess muss vollendet sein, dass Produkt muss vorliegen, erst dann kann man die verbrauchte Arbeitszeit angeben. Das Messergebnis ist so wie die ‚ruhende Arbeitszeit‘ – eine Dauer. Ergo: Müllers konstruiert mit sinnlosen Worten einen Unterschied, den es wissenschaftlich gesehen nicht geben kann. Damit fällt die Marxsche Proportionalität im Rahmen seiner Interpretation wieder in sich zusammen.

Doch Müller hat noch einen Trumpf im Ärmel:

„Wäre Quaas’ Auslegung des Marx-Zitats (‚Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder anderen Ware…‘ MEW 23: 54) richtig, dann stimmt entweder die Aussage des Marxschen Satzes nicht oder Quaas’ Auffassung, dass die Wertgröße das Produkt aus Kompliziertheitsgrad und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit ist, kann nicht richtig sein. Die Werte zweier Waren verhielten sich zueinander gerade nicht wie ihre Arbeitszeiten, wenn Marx gemeint hätte, was Quaas ihm unterstellt, dass sie auch beeinflusst würden durch die Kompliziertheitsgrade der Arbeiten.“ (136 f.)

Willkommen, Klaus Müller, in der Arbeitswerttheorie, die nicht nur homogene Arbeit, sondern auch heterogene Arbeit berücksichtigt! Was Müller hier beschreibt, ist die Konsequenz aus dem Fakt, dass „ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit [hinsichtlich des Wertprodukts] gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit“ ist (MEW 23: 59). Marx deutet an der angegebenen Stelle an, wie die kompliziertere Arbeit darzustellen wäre, nämlich durch ein multiplikatives oder potenziertes Verhältnis zur gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Dass dann die obige Proportionalität nicht mehr zutrifft, ist logisch. Auf die Bedingtheit der Proportionalität habe ich bereits vor Jahren hingewiesen: „Wert und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit sind – nach Reduktion auf einfache Arbeit – einander proportional.“ (Quaas: 2016: 74)

Ein Folgeproblem besteht darin, jenen Faktor zu bestimmen, mit dem die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit hochmultipliziert werden muss, um ihr Wertprodukt zu bestimmen. Aber Marx hat auch eine Lösung für das Problem, wie man die Kompliziertheitsgrade bestimmen könnte, nämlich anhand des Werts der jeweiligen Arbeitskraft (MEW 23: 211 f. in Zusammenhang mit 185 ff.). Der Hintergrund für diesen Ansatz ist dieser: Der Lohn, den eine Arbeitskraft verdient, muss – in langer Frist gesehen – hinreichen, um ihren Wert zu erhalten. Ansonsten verkümmert sie. Unter den Bedingungen eines kapitalistischen Marktes ist ein angemessener Lohn nur möglich, wenn die Arbeitskraft, die einen höheren Wert als andere hat, auch ein entsprechend hohes Wertprodukt erzeugt.

Marx unterstellt im „Kapital“ jedoch einfache Arbeit. In diesem Fall stimmt die Proportionalität, und zwar für das gesamte „Kapital“. Des Weiteren hätte Müller bedenken müssen, dass der Kompliziertheitsgrad auch im Rahmen seiner eigenen Interpretation zu berücksichtigen wäre, und zwar im Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. „Im Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit ist die Umrechnung komplizierter in einfache Arbeiten schon geschehen.“ (140) Das wäre ja bequem! Da sparen wir uns also weiteres Nachdenken, wie man eine solche Umrechnung bewerkstelligen könnte. Man fragt sich, was Müller noch alles in den Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit hineinprojizieren will. Neben der Arbeitszeit unter normalen Produktionsbedingungen also die Proportionalität der Produktion dem volkswirtschaftlichen Bedarf entsprechend und nun auch noch der Grad der Kompliziertheit des zugrunde liegenden Arbeitsprozesses, an dem realiter sicherlich mehrere Gewerke mit unterschiedlich komplizierter Arbeit und unterschiedlichem Gewicht beteiligt sind.

„Am Bau einer Spinnmaschine sind viele Arbeiter beteiligt. Bergleute fördern Eisenerz, Hüttenarbeiter schmelzen Eisen und gießen Rohlinge. Ihre lebendige Arbeit hat die Form eines Gegenstands angenommen. Der Eisenrohling ist vergegenständlichte Arbeit. … Andere stellen mechanische Teile der Spinnmaschine dar. Aus Rädern, Walzen, Balken usw. bauen Arbeiter dann die Spinnmaschine. Die Maschine ist das Produkt der Tätigkeit vieler Arbeiter. Vielleicht waren insgesamt 20.000 Arbeitsstunden erforderlich, um sie zu fertigen.“ (301)

Es ist eine Milchmädchenrechnung, Arbeitsstunden zusammenzuzählen und zu glauben, damit den Wert einer Maschine bestimmt zu haben. Nicht berücksichtigt wird, dass die Arbeitsstunden der verschiedenen Arbeiter mit unterschiedlichem Gewicht in den Wert der Maschine eingehen. Die Rechnung hat noch einen zweiten Teil. Müller glaubt: „Nach 100stündiger Arbeitszeit hat die Maschine ihren Herstellungsaufwand eingebracht“ (ebd.), weil sie in dieser Zeit so viel Arbeitszeit einspart wie man mit einem Handwebstuhl gebraucht hätte, um dasselbe Produkt herzustellen.

Dabei wird unterschlagen, welche Kosten der Betrieb einer „Spinning Jenny“ (Antrieb, Baulichkeiten, Lohn, Material) im Vergleich mit den Kosten eines Handwebstuhls macht. Marx weist außerdem darauf hin, dass unter kapitalistischen Bedingungen nicht die angewandte Arbeit ausschlaggebend ist, sondern der Wert der angewandten Arbeitskraft. (MEW 23: 414) Unter der realistischen Bedingung heterogener Arbeit weicht der Wert von der Zahl der Arbeitsstunden ab.

Trotz dieser Widersprüche will Müller uns den Weg zur exakten Berechnung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bei der Herstellung dieses differenzierten Komplexes einer Maschine weisen. Dazu mehr im Abschnitt 1.15. Pech ist allerdings, dass der Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit – trotz des umfangreichen Plädoyers für seine Messbarkeit (Müller 2024: 91 ff.) – diese Eigenschaft in Müllers Interpretation ganz verloren hat: Es gibt keine Uhren, die eine „politökonomische Zeit“ messen könnten. Und deshalb bleibt nichts anderes übrig, als alle die Faktoren, die bei der Wertbestimmung eine Rolle spielen, rational zu definieren und – dem Marxschen Text entsprechend – ihren Zusammenhang mit dem Wert darzustellen (Quaas 2016).

Müller dagegen weist Marx zurecht, eventuell aus Ärger über das Gegenbeispiel zu seiner Arbeitszeitrechnung?

„Richtig hätte Marx formulieren müssen: Der Wert einer Ware verhält sich bei gegebenem Kompliziertheitsgrad der Arbeit zum Wert jeder anderen Ware wie die zur Produktion der einen notwendigen Arbeitszeit zu der für die Produktion der anderen notwendigen Arbeitszeit.“ (137)

Hier stellt die Architektur des „Kapital“ Müller ein Bein: Wie kann denn Marx auf der Seite 54 den Begriff „Kompliziertheitsgrad“ verwenden, wenn er in seiner Systematik erst auf der Seite 59 darauf aufmerksam macht, dass es einen Unterschied zwischen komplizierter und einfacher Arbeit gibt? Nachdem dieser Unterschied eingeführt worden ist, hätte Marx in der Tat eine qualifizierende Bedingung hinzufügen müssen. Doch Marx braucht das nicht, weil er sofort klar macht, dass sich seine Darstellung auf die Betrachtung homogener Arbeit beschränkt. Und die qualifizierende Bedingung hätte auch nicht lauten können: „bei gegebenem Kompliziertheitsgrad“, da auch verschiedene Kompliziertheitsgrade „gegeben“ sind, sondern hätte dann lauten müssen: „bei gleichem Kompliziertheitsgrad“.

1.15 Was ist der Wert?

Trotzdem ich wiederholt sowohl in aller Kürze als auch ausführlich Müller erklärt habe, was meiner Meinung nach Marx unter dem Wert versteht, reagiert Müller immer wieder mit dem gleichen verunglimpfenden Vorwurf: „Was Wert ist, wenn er keine Arbeitszeit ist, sagt er [Quaas] nicht. Das ist keine Werttheorie, allenfalls eine verquere.“ (Müller 2024: 138) Doch wie verquer ist denn eine Theorie, wonach der Wert nichts anderes ist als der quantitative Aspekt der abstrakten Arbeit, die eine besondere Form der allgemeinen Arbeit ist und deren quantitativer Aspekt aber durch die in jeder Produktion präsente gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gemessen wird, in die ihrerseits auch noch die Normalität der Produktionsbedingungen, der gesamtgesellschaftliche Bedarf und die Kompliziertheit der Arbeit eingehen? Wie Humpty Dumpty müsste Müller diesem Begriff ein Extra zahlen für die ungeheure Arbeit, die er leisten muss.

Allgemeine Arbeit ist aus Müllers Sicht jede menschliche Arbeit, insofern sie Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ist und nützliche Dinge herstellt. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist ebenfalls eine überhistorische Kategorie. Werden Produkte für den Markt hergestellt, verwandelt sich die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in den Wert. Nach wie vor ist sie aber eine Eigenschaft der allgemeinen menschlichen Arbeit, auch wenn letztere die Form der abstrakten Arbeit annimmt. Aus der Identität von Wert und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit unter den angegebenen Bedingungen folgt, dass die menschliche Arbeit nach Müller einen Wert hat. Was sagt Marx dazu? „Menschliche Arbeitskraft im flüssigen Zustand oder menschliche Arbeit bildet Wert, aber ist nicht Wert. Sie wird Wert in geronnenem Zustand, in gegenständlicher Form.“ (23: 65) Auf Klaus Müller trifft die Kritik zu, die Marx an Destutt de Tracy übt: „Er fällt damit in die Flachheit der Vulgärökonomie, die den Wert einer Ware (hier der Arbeit) voraussetzt, um dadurch hinterher den Wert der andren Waren zu bestimmen.“ (MEW 23: 94, Fn. 31)

Müllers Leugnung einer separaten, d. h. von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit unterschiedenen Größe namens ‚Wert‘ bedeutet, dass er Marx’ Werttheorie durch eine Arbeitszeitrechnung ersetzt, die viel besser bereits in den 60er Jahren von der neoricardianischen Schule entwickelt worden ist. M. a. W.: Trotz zahlreicher Marx-Zitate ist Müllers Darstellung der Arbeitswerttheorie im Kernbereich nicht authentisch.

Doch wie wird nun der Wert richtig definiert? Bei der Erläuterung des Wertbegriffes verwendet Marx anstelle einer einfachen Definition eine operationale Charakteristik, mit deren Hilfe er den „Wert“ in sein System der Kategorien einordnet. Das ist eine wissenschaftlich durchaus akzeptierte und beispielsweise auch in der Mathematik angewandte Methode zur Bestimmung von Grundbegriffen. Auf dieser Grundlage stelle ich fest (Quaas 2023):

„Müller irrt, wenn er behauptet, dass es im ‚Kapital‘ keine Definition des Wertes gibt, die ‚die Wertgröße anders als durch Arbeitszeit definiert…‘ (Müller in Z 130: 153) Nur wird der Wert nicht in der Form einer Real- oder Nominaldefinition eingeführt, sondern durch Beschreibung der sachlichen und der erkenntnismäßigen Zusammenhänge, in denen der Wert existiert und zum Objekt gemacht werden kann.“ (Ebd.)

Welche gedanklichen Schritte macht Marx, um den „Wert“ zu definieren?

„Die Forderung, (i) von den nützlichen Eigenschaften der Ware und von ihren mannigfachen Tauschwerten abzusehen (MEW 23, S.51 f.), (ii) die Ware als Arbeitsprodukt, als Resultat unterschiedsloser menschlicher Arbeit zu betrachten, (iii) dabei aber die quantitativen Unterschiede im Blick zu behalten, die darin bestehen, dass unterschiedlich viel menschliche Arbeit in den Arbeitsprodukten aufgehäuft ist (ebd.: S.52 f). Der letzte Aspekt wird von Marx auf der Grundlage von (i) und (ii) besonders hervorgehoben, indem er, wie man heute sagen würde, eine operationale Anweisung gibt, wie man den Wert zu messen hat: ‚Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‚wertbildenden Substanz‘, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.‘ (MEW 23: 53)“

Das fasse ich wie folgt zusammen:

„Was ist also der Wert? Eine quantitative und gesellschaftliche Eigenschaft der Waren, die in einer warenproduzierenden Gesellschaft von der Arbeit erzeugt wird, weil menschliche Arbeitskraft verausgabt werden muss, um die Ware herzustellen; die Größe des Werts hängt davon ab, wie lange im Schnitt bei ihrer Herstellung gearbeitet werden muss. Auf einem Markt wird der Wert einer Ware mehr oder weniger exakt durch den Tauschwert oder den Preis dargestellt.“ (Quaas 2023)

Müller führt zahlreiche (acht) Zitate an, von denen nur ein einziges das besagt, was er gern lesen möchte, nämlich dass „der in der Ware enthaltene Wert … gleich der Arbeitszeit“ ist, und dieses Zitat stammt aus dem dritten Band des „Kapital“, den Marx noch überarbeitet hätte, wenn er dazu gekommen wäre. Meine Interpretation ist aber auch mit diesem Zitat nicht widerlegt: Die behauptete Gleichheit zweier Objekte setzt voraus, dass es zwei Objekte gibt. Eine Tatsache, die Müller leugnet. Alle anderen von ihm angeführten Zitate bestätigen, dass Wert und Arbeitszeit für Marx unterschiedliche Größen sind, denn wenn sie identisch wären, hätte er jeweils nur einen Begriff zu erwähnen brauchen. Wäre Müllers Interpretation richtig, würde es sich in allen diesen Fällen um ein literarisches Stilmittel handeln, um mit einem Synonym den Text ein wenig aufzulockern. Der Kern der Arbeitswerttheorie, die Determination des Wertes durch die Arbeitszeit, wäre dann, um mit Marx zu sprechen, „belletristische Scheiße“.

Müllers ungenaue Leseweise übersieht, dass es sich in den meisten Zitaten um ein Maßverhältnis handelt: Der Wert wird durch die Arbeitszeit gemessen. Das Maß eines Dinges ist ein anderes Ding der gleichen Art. Man kann den Wert nicht durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit messen, wenn diese selbst der Wert ist. Dann misst man nur die Arbeitszeit und dabei kommt Müllers Arbeitszeitrechnung heraus, die aber nur wenig bis gar nichts mit der Marxschen Wertrechnung zu tun hat – und die besser im neoricardianischen Modell zu finden ist.

Natürlich ist es auch möglich, eine kurze, trotzdem aber wissenschaftlich korrekte Definition des Werts zu geben, von der ich allerdings glaube, dass Müller damit nichts anfangen kann. Sie ist u.a. in Quaas (2016: 51 f.) zu finden und setzt, wie Marx’ Analyse am Anfang des „Kapital“, beim Tauschwert an:

„Es handelt sich bei dem Ausdruck x Ware A = y Ware B nicht, wie Marx glaubt, um eine ‚Gleichung‘ im Sinne der Mathematik, sondern um eine ‚Gleichsetzung‘, wie er diesen Ausdruck in jenem Absatz auch richtig bezeichnet, deren logischer Status ihm jedoch nicht ganz klar ist. Interpretiert man das Gleichheitszeichen nicht mathematisch, sondern im Sinne einer Gleichsetzung von verschiedenen Gebrauchswertmengen über eine gemeinsame Eigenschaft W, symbolisiert durch ein Gleichheitszeichen mit darüber gestellten W, also,

so hat man die oben bereits erwähnte Definition einer Äquivalenzrelation vor sich, die formallogisch korrekt das darstellt, was Marx mit dem Gemeinsamen beider Waren ausdrücken wollte.“

Es ist übrigens Marx selbst, der für den Wert das mathematische Symbol W einführt. (MEW 23: 56)

Mehr kann und muss man über die Definition des Werts nicht sagen: Nach Marx ist es eine gesellschaftliche Eigenschaft der Waren, die eines Mehr oder Weniger fähig ist und die dem von ihm unterstellten Äquivalententausch zugrunde liegt. Und da es sich um eine separate Größe handelt, kann deren Einheit nicht die Zeit sein. In Quaas 2016 habe ich wiederholt vorgeschlagen, im Fall der Angabe von Wertgrößen von jeweils „x Werteinheiten (WE)“ zu sprechen, ein Begriff, der von Müller gelegentlich auch benutzt wird (310). Man kommt halt um die richtige Ausdrucksweise nicht herum, wenn man Marx interpretiert.

Wenn man, wie Müller, bestreitet, dass die Determinante der Wertgröße die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, so muss man Müller fragen, was sonst determiniert den Wert einer Ware und welche Belege kann er vorweisen, um seine reduktionistische Interpretation zu stützen? Außer der Stelle im dritten Band wird er möglicherweise noch in den früheren Schriften fündig. Aber frühere Formulierungen können zwar helfen, spätere besser zu verstehen, sie können sie aber nicht widerlegen.

1.16 Müller und das neoricardianische Modell

An verschiedenen Stellen seines Buches kritisiert Müller die Methode, Werte und Produktionspreise aus der physischen Struktur der Volkswirtschaft abzuleiten. Von dieser Kritik ist vor allem die neoricardianische Schule und ihr Vorläufer und angeblicher Erblasser David Ricardo betroffen.

„Ricardo ist Arbeitswerttheoretiker. Aber er betrachtet die Arbeit ausschließlich in ihrer konkreten Form, kennt keinen Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Arbeit. Das ist seine Schwäche. Seine falschen Positionen übernehmen jene, die die Arbeitswerttheorie durch Gebrauchswertmengenmodelle ersetzen.“ (14)

„Die ‚Sraffianer‘ oder ‚Neoricardianer‘ kennen nur Gebrauchswerte und konkrete Arbeiten. Wer die beiden Bestimmungen der Ware – Gebrauchswert und Wert – und die der Arbeit – konkrete, abstrakte – nicht auseinanderhält, fällt hinter Marx’ Erkenntnisse zurück.“ (15)

Die neoricardianischen Modelle Sraffas und Leontjews seien „Gebrauchswertmengenmodelle“, die „stoffliche Verflechtungen zwischen den Produktionsbereichen erfassen…“

Sraffa ermittle „die Preise auf der Basis physischer Verflechtungen zwischen den Zweigen.“ (144, Fn. 29) „Tatsächlich bedarf es in der Modellwelt Sraffas keines Arbeitswerts. Sraffas Produktionspreise stellen Relationen zwischen stofflichen Mengen dar.“ (108)

Wie seine Kritik an Schefold belegt (14 ff.), ist ihm dabei nicht bewusst, dass die von ihm hart kritisierte neoricardianische Schule keineswegs nur technische Beziehungen und Preise kennt. Im Mittelpunkt dieser Schule steht das gesellschaftliche Problem der Verteilung des Surplusprodukts zwischen Arbeitern und Kapitaleignern, wobei auch die Werttheorie eine Rolle spielt (bei einer Profitrate von null). Die Neoricardianer haben bereits in den 60er Jahren realisiert, was Müller vorschwebt: Die Integration von indirekter und direkter Arbeit in ein volkswirtschaftliches Modell, verbunden mit der Behauptung, dass die entsprechende Größen Marxsche Werte seien. Auf dieser Grundlage operiert Schefold nicht erst in seinen neusten Publikationen, sondern bereits in seiner Dissertation freiweg mit werttheoretischen Größen: „In single product systems, pi(0)=ui is interpreted as the amount of direct and indirect labour embodied in one unit of good i.” (Schefold 1971: 24)

Allerdings handelt es sich um eine in hohem Maße vereinfachte und deshalb auch nur beschränkt gültige Arbeitswerttheorie. –

Betroffen von Müllers unsachgemäßer Kritik ist auch Manfred Hieke: „Wie in der Modellwelt Sraffas stellen bei ihm Werte bzw. Produktionspreise Relationen zwischen stofflichen Mengen dar.“ (291)

Wenn Klaus Müller sich etwas umschauen würde, wären noch weitere Namen zu nennen. Kurz zusammengefasst sieht Müller den entscheidenden Fehler des neoricardianischen Modellansatzes darin, dass auf die Werte verzichtet wird (was nicht stimmt) und die Produktionspreise direkt aus der gebrauchswertmäßig-stofflichen Struktur einer Volkswirtschaft abgeleitet werden. Müller will dagegen eine Arbeitszeitrechnung, denn: „Wertrechnungen sind Arbeitszeitrechnungen.“ (133)

1.16.1 Müllers Arbeitszeitrechnung

Um das an einfachen Beispielen zu demonstrieren, präsentiert Müller (wie schon Ladislaus v. Bortkiewicz) ein Drei-Sektoren-Modell. (146 ff.) Dabei handelt es sich in der Tat um eine reine Arbeitszeitrechnung, bei der es darauf ankommt, die volle Arbeitszeit zu ermitteln, die von den verschiedenen Produkten verkörpert wird. Die volle Arbeitszeit ist die Summe aus der in einem Produktionsprozess direkt aufgewandten Arbeitszeit plus der Arbeitszeit, die in den Arbeitsmitteln (AM) und Arbeitsgegenständen (AG) steckt (indirekte Arbeitszeit). Sektor 1 produziert AG, Sektor 2 stellt AM her und im Sektor 3 werden Konsumgüter (KG) erzeugt.

Im Unterschied zu Sraffas Modellbeispielen für eine Warenproduktion mittels Waren und Arbeit wird bei Müller die Arbeit nicht durch die Zahl der Arbeiter, sondern – der Vorgabe von Marx entsprechend – in Stunden angegeben. Doch das ist kein wesentlicher Unterschied: Teilt man die Stundenzahl durch die einheitliche Arbeitszeit der Beschäftigten in der betrachteten Produktionsperiode, so erhält man die Anzahl der Beschäftigten. Arbeitet ein Beschäftigter pro Produktionsperiode (beispielsweise pro Tag) 7,5 Stunden, so bedeuten Müllers 15 Stunden Arbeit, dass 2 Beschäftigte am Werk waren. Die „stofflich-naturale“ Struktur des ersten bei Müller zu findenden Modellbeispiels (147), genauer gesagt: der Input, geordnet nach Zweigen (Spalten) und Gütern (Zeilen), wird hier in der üblicherweise verwendeten Matrixschreibweise (als Matrix Z) notiert. Den Output Q stellt man zweckmäßig mit Hilfe einer Diagonalmatrix dar. Das Beispiel sieht dann so aus:

Müller vergisst zu erwähnen, dass AG und AM vollständig verbraucht bzw. verschlissen werden müssen, um ihren vollen „Wert“ anzurechnen. Den Umfang der in den drei Sektoren geleisteten direkten Arbeit stellen wir durch den Zeilenvektor L dar. Für einen Moment akzeptieren wir Müllers Theorie, dass die in einer Ware verkörperte volle Arbeitszeit identisch mit ihrem Wert ist. Dadurch ist es möglich, die drei Komponenten des Wertevektors v (value) mit Hilfe des von Müller verwendeten griechischen Symbols λ (Lambda) darzustellen:

Das ist Müllers erstes Modellbeispiel, dargestellt in kompakter Matrixschreibweise. Um die Werte alias Lambdas zu bestimmen, stellt er folgendes Gleichungssystem auf und rechnet es anschließend aus (147):

Müller rechnet akribisch vor, wie man dieses Gleichungssystem löst und bekommt folgende Lösung heraus:

Das seien die vollen Arbeitsmengen, die in je einer Einheit AG, AM und KG stecken. (148) Wobei die Arbeitsmengen in Stunden angegeben werden. Ein Hinweis, den er ebenfalls „vergisst“.

Den Nachvollzug der Rechnung ersparen wir dem Leser, weil es uns auf etwas anderes ankommt, nämlich auf den Vergleich mit dem neoricardianischen Modell. Anlass dafür ist die Vermutung, dass Müller mit seinen Arbeitszeitrechnungen nichts anderes tut als Sraffa und all’ die anderen Neoricardianer, nämlich den Wert aus den stofflichen Beziehungen zwischen den Produktionsbereichen abzuleiten. Müller selbst beschreibt seine Methode so: „Die volle Arbeitszeit ist die Wertgröße. Sie ist die Summe an direkter und indirekter Arbeitszeit, die notwendig ist, genau die Mengen an Gütern zu erzeugen, die die Gesellschaft haben will. Für ihre Höhe sind die technischen Verflechtungen der Sektoren und Bereiche, die Produktivität der Gütererzeugung und die Bedarfsstruktur bestimmend.“ (162) Der Wert „kann mit Hilfe eines linearen Gleichungssystems ermittelt werden, vorausgesetzt, die benötigten Informationen sind verfügbar.“ (162)

Schauen wir also, wie Müllers Gleichungssystem aussähe, wenn wir es – so wie in der mathematischen Ökonomik üblich – mit Hilfe der Matrizenschreibweise notieren. Sein Gleichungssystem lässt sich kurz so notieren:

Um Müllers „Wert“ einer Gütereinheit zu erhalten, multiplizieren wir diese Gleichung von rechts mit der inversen Matrix des Outputs und ordnen die Terme etwas um, so dass sich Folgendes ergibt:

In der Literatur ist es üblich, den gesamten Verbrauch von Arbeitsgegenständen einschließlich des Verschleißes an Arbeitsmitteln je Outputeinheit anzugeben und auf diese Weise eine technologische Matrix A zu definieren. Dem entsprechend wird der Arbeitseinsatz ebenfalls je Outputeinheit angegeben. Beide Größen sind in der letzten Formel bereits enthalten. Es führt also zu einer Vereinfachung der Formel, wenn wir definieren:

Mit diesen Vereinfachungen und mit der Identitätsmatrix E, die auf der Hauptdiagonalen lauter Einsen und sonst nur Nullen enthält, erhält man aus der letzten Müllerschen Gleichung:

Die Formel ganz rechts, die durch identische Umformungen des Müllerschen Beispiels abgeleitet worden ist, stellt nichts anderes als die Formel für die volle Arbeitszeit je Wareneinheit dar. Diese Formel ist Müllers Eintrittskarte in die neoricardianische Schule. Ich würde ihn willkommen heißen und auf die zahlreichen Konsequenzen hinweisen, die sich daraus ergeben und die überwiegend der Marxschen Theorie widersprechen. Das würde ich tun, wenn ich selbst ein Neoricardianer wäre. Da ich das nicht bin, lasse ich einen sicherlich auch Müller bekannten Vertreter dieser Schule zu Wort kommen.

Luigi Pasinetti bezeichnet den Arbeitsvektor l mit an und die Identitätsmatrix E mit I. Man muss dazu wissen, dass jeder Neoricardianer im Grunde genommen seine eigene Notation verwendet, ohne dass sich an den grundlegenden Strukturen des gemeinsam geteilten Modells etwas ändert. Pasinetti schreibt:

„Aus den Überlegungen des Abschnitte 7.1 … wissen wir nun, dass die i-te Spalte von (IA)-1 die Warenmengen darstellt, die direkt und indirekt im gesamten ökonomischen System erforderlich sind, um eine physische Einheit der Ware i als Endprodukt zu erhalten… Wir können daraus schließen, dass der Vektor v, definiert als

die sogenannten vertikal integrierten Arbeitskoeffizienten repräsentiert. In klassischer Terminologie können wir auch sagen, v stelle die direkt und indirekt in jeder Mengeneinheit der Waren, die das Nettoprodukt bilden, ‚verkörperten‘ Arbeitsmengen dar (das, was Marx als ‚Werte‘ definierte).“ (Pasinetti 1988: 97)

Man könnte meinen, Müller habe bei Pasinetti abgeschrieben. Aber nachdem ich mehrere Jahre mit ihm diskutiert habe, bin ich überzeugt davon, dass er das neoricardianische Modell aufgrund seiner eigenen Vorstellungen von der Arbeitswerttheorie neu erfunden hat. Leider ist er sich dessen nicht bewusst und glaubt fest daran, dass die Marxsche Wertrechnung eine Arbeitszeitrechnung ist. Dass jenes Modell die Marxsche Werttheorie nur äußerst vereinfacht wiedergibt, habe ich bereits vor Jahren kritisiert (Quaas 1999).

1.16.2 Ein voraussichtliches Gegenargument

Kann man behaupten, dass Müllers Arbeitszeitrechnung zwar formal mit dem Modell der neoricardianischen Schule übereinstimmt, inhaltlich aber eine ganz andere Theorie darstellt, weil sie anstelle von Beschäftigtenzahlen Arbeitsstunden als Maßeinheit der Arbeit verwendet?

Behaupten kann man das, aber trifft das auch zu? Zunächst eine Analogie: In den 80er Jahren habe ich in meiner schlecht isolierten Leipziger Mietwohnung pro Winter 100 Zentner Brikett verfeuert, um 2 1/2 Zimmer zu heizen. Hätte ich vom Kohlenhändler mehr oder weniger bekommen, wenn ich stattdessen 5 Tonnen Brikett bestellt hätte? Wohl kaum! M. a. W.: Unterschiedliche Maßeinheiten zu benutzen ist auch nur ein formaler Unterschied, der Inhalt bleibt derselbe.

Wenn die Arbeit nicht in Stunden, sondern in Beschäftigungseinheiten angegeben wird, lautet Müllers Gleichungssystem wie folgt:

Dabei ist unterstellt worden, dass der Arbeitstag 7,5 Stunden hat. 15 Stunden Arbeit werden dann von 2 Beschäftigten erbracht. Die anderen Angaben für die Arbeitsmenge werden entsprechend umgerechnet. Das Ausrechnen der „Werte“ erfolgt nach Müllers Schema:

In Beschäftigteneinheiten ausgedrückt erhält man folgende „Werte“:

Wie zu erwarten, sind das jeweils 2/15 der „Werte“ ausgedrückt in Stunden. Die Tauschverhältnisse sind gleich und unabhängig von der Maßeinheit, in der die „Werte“ alias „volle Arbeitsmengen“ ausgedrückt werden.

Ergo: Müllers Arbeitszeitrechnung ist eine simple Version des neoricardianischen Modells.

1.17 Kompliziertheitsgrad der Arbeit

Für Müller ist der Wert identisch mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Zugleich erkennt er an, dass eine Arbeitsstunde eines Ingenieurs so viel Wert schaffen kann wie drei Stunden eines Straßenfegers. Ihm bleibt also nichts anderes übrig, als die Kompliziertheit der Arbeit in den Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit hineinzudeuten, und er hält es dementsprechend für möglich, dass bei Marx „die Kompliziertheit der Arbeiten bereits in die Kategorie der gesellschaftlich notwendigen Arbeit eingeflossen ist“ (Müller in Z 130: 153). Allerdings gibt es für diese Interpretation im „Kapital“ keinen einzigen Beleg. Müllers mathematische Idee, „dass das Produkt aus der tatsächlich geleisteten Durchschnittsarbeit mit ihrem Kompliziertheitsgrad erst die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ergibt […]“ (ebd.), ist deshalb eine reine Erfindung. Sie steht im Widerspruch zu der von Marx wiederholt niedergelegten Auffassung, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeit anhand der Zeit (Tag, Stunde etc.) gemessen werden muss. Bekanntlich wird die Zeit durch physikalische Uhren gemessen, die nicht in der Lage sind, den Kompliziertheitsgrad der Arbeit zu berücksichtigen.

In seinem neuen Buch führt Müller diese Idee nun aus.

„Wird die einfache Arbeit mit 1 normiert, dann wird die komplizierte Arbeit mit einer Zahl ausgedrückt, die größer ist als 1.

Kompliziertheitsgrad k = Einfache Arbeiten in Zeiteinheiten (z.B. Stunden) dividiert durch komplizierte Arbeiten in Zeiteinheiten (z.B. Stunden)

Die Kennziffer drückt aus, wie viele Zeiteinheiten einfacher Arbeit eine Zeiteinheit komplizierter Arbeit entspricht.“ (169)

Jene Kennziffer ist jedoch weder messbar noch hat sie eine Erklärungsfunktion in der Arbeitswerttheorie. Je nach Interpretation der Formel ist sie sogar sinnlos. Das erkennt man, wenn man Müllers kurz vor dieser Textpassage repetierte Beschreibung benutzt, die auf Marx fußt:

„Ich gehe von Marx’ Bemerkung aus, dass die komplizierte Arbeit multiplizierte einfache Arbeit ist. Und deshalb in einer Stunde komplizierter Arbeit mehr Wert entsteht als in einer Stunde einfacher Arbeit.“ (Ebd.)

Betrachten wir also 1 Stunde eines Straßenfegers und 1 Stunde eines Architekten, deren Wertprodukt sich unterscheidet, und dividieren die eine Stunde des Straßenfegers durch die eine Stunde des Architekten, so erhalten wir Müllers Kennziffer:

Welchen Sinn soll dieser Ausdruck haben? Müllers Vorschlag, die anhand der Durchschnittsarbeit (!) gemessene Zeit mit dem Kompliziertheitsgrad zu multiplizieren, um die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit einer komplizierten Arbeit zu bestimmen, ist damit jedenfalls nicht realisierbar. Einen Sinn erhält die Formel erst, wenn man die Arbeitszeiten so bestimmt, dass ihnen das gleiche Wertprodukt entspricht. Doch dazu müsste man die Werte bereits kennen, die mit Hilfe jener Formel erst berechnet werden sollen! Die Erklärungsleistung dieses Ansatzes ist also gleich null.

Im „Kapital“ wird der Kompliziertheitsgrad der Arbeit übrigens anhand der Reproduktionskosten der Arbeitskraft bestimmt. Dazu sind mehrere Überlegungen erforderlich, die mit einer einzigen Formel nicht eingefangen werden können. (Quaas 2016: Stichwort „Kompliziertheitsgrad“)

Nun zur Messbarkeit: Marx’ Werte werden durch die abstrakt menschliche Arbeit gebildet, die ihrerseits stets an die konkrete Arbeit gebunden ist – was Müller ebenfalls so sieht. (Z 130: 150 f.) Das bedeutet: Der Umfang der abstrakten Arbeit kann nur anhand der Dauer der mit ihr verbundenen konkreten Arbeit gemessen werden. Deshalb kann man die (durchschnittliche und gesellschaftlich notwendige) Dauer der komplizierteren Arbeit eines Ingenieurs niemals anhand der einfachen Durchschnittsarbeit eines Straßenfegers messen. Selbst wenn man genau wüsste, dass die Bildungskosten der Arbeitskraft eines Ingenieurs dreimal so hoch sind wie die eines Straßenfegers, heißt das ja nicht, dass der Straßenfeger dreimal so lange wie der Ingenieur benötigt, um dieselbe Arbeit zu leisten. Vielmehr wird es so sein, dass er sie überhaupt nicht zuwege bringt.

Man kann die (gesellschaftlich notwendige) Arbeitszeit des Arbeitsprozesses eines Ingenieurs unmöglich anhand der Dauer des Arbeitsprozesses einer durchschnittlichen Arbeitskraft messen. Das muss man auch nicht, da Marx davon ausgeht, dass die durchschnittliche Dauer genau derjenigen Arbeit maßgeblich ist, die den Wert einer bestimmten Ware produziert hat. Das schließt die Einbeziehung des Kompliziertheitsgrades in die Definition der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit definitiv aus.

Müller verteidigt seinen Irrationalismus bei der Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit mit dem Hinweis auf einige sowjetische Autoren, die es ähnlich sehen wie er. Angesichts des grandiosen Scheiterns des im sozialistischen Staatenbund politisch führenden Staates wahrlich ein sehr überzeugendes Argument! Etwas weniger autoritativ argumentiert Müller an dieser Stelle: „Mir scheint, Quaas’ Fehler besteht darin, den Zeitbegriff ausschließlich physikalisch zu sehen.“ (173) Seit wann ist es ein Fehler, einem Ökonomen wie Marx zu unterstellen, dass er rationale, wissenschaftliche und realistische Begriffe verwendet? Abgesehen davon, dass es im „Kapital“ keinen einzigen Beleg für Müllers „politökonomische Zeit“ gibt: Kennt er denn einen einzigen Tarifvertrag, der anstelle der physikalischen Zeit seine alternative „politökonomische Zeit“ oder gar die Zeitwahrnehmung und das Zeitgefühl, auf die er verweist (95), verwendet? Mit gutem Grund habe ich darauf hingewiesen, dass die Arbeitszeit auch heute noch mit einer Stechuhr gemessen wird, wenn es auf die Bestimmung der Arbeitszeit ankommt. (173) Die Stechuhr unterscheidet nicht, ob sich ein Ingenieur oder ein Straßenfeger ein- und ausloggt. Und ein Materialist vom Schlage eines Karl Marx soll einen Zeitbegriff verwendet und propagiert haben, den man wie Kaugummi je nach Gusto in die Länge ziehen kann? Müllers Idee entspricht der Losung Stalins: „Die Kader entscheiden alles.“ In der SU war es sicher möglich, dass der Genosse Direktor die 100 Stunden Arbeit des Architekten, wenn sie ihm gefiel, mit einem ganzen Arbeitsjahr anrechnete. Und wenn nicht, mit 10 Jahren Arbeitslager. Wohin eine solche Wirtschaftspolitik führt, haben wir – leider – erlebt.

Mit Berufung auf seine sowjetischen Kollegen Afanassjew und Kanke leitet Müller aus der „Dualität des ökonomischen Prozesses“ die „Duplizität des ökonomischen Zeitbegriffs“ ab. (173) Hier Müllers Übernahme der Begründung:

„Die marxistische Wirtschaftstheorie enthalte ‚den historisch ersten, wissenschaftlich begründeten und durch die Praxis geprüften Beweis dafür, dass es keine Zeit schlechthin gibt und dass man sich bei der Analyse des Zeitproblems nicht auf die Behandlung allein der physikalischen Zeit beschränken darf.‘… Dabei drücke die ‚Kalenderarbeitszeit‘, die natürliche Zeit die Produktivkraftseite, das Verhältnis der Menschen zur Natur aus. Sie ist das Maß der individuellen, konkreten Arbeit, die Gebrauchswerte hervorbringt. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bringe dagegen die Produktionsverhältnisse zum Ausdruck, sie erweise sich als spezifische Zeit eines sozialen Bezugssystems.“ (173 f.)

Lyssenkos „sozialistisches“ Wissenschaftsverständnis lässt grüßen! Nach dem Motto: Wenn schon die Physik eine Relativität der Zeit kennt, dann darf es das erst recht in der Sozialwissenschaft geben. Doch eine solche Uminterpretation wissenschaftlicher Kategorien ist mit Marx’ Philosophie, insbesondere mit dem historischen Materialismus, unvereinbar. – Der Fehler in dieser Betrachtungsweise besteht darin, dass das Mensch-Natur-Verhältnis von den Produktionsverhältnissen getrennt wird. Richtig wäre es so: Indem eine produktive Einheit, zum Beispiel ein kapitalistisches Unternehmen oder eine Genossenschaft, eine bestimmte physische Produktivkraft der Arbeit entwickelt, also vorderhand ein Verhältnis zur Natur eingeht, verhält sie sich zu den anderen produktiven Einheiten, die eine andere (höhere oder geringere) physische Produktivität bei der Herstellung desselben Produkts entfalten. Letzteres ist das Produktionsverhältnis, worauf es bei einer Produktion für den Markt ankommt. Für das Angebot der Produkte auf einem Markt ist langfristig gesehen nur die im jeweiligen Gewerbe durchschnittlich entwickelte physische Produktivität maßgebend, die, nach Müller, der Kehrwert des Werts ist (147). Man benötigt keine „Duplizität des ökonomischen Zeitbegriffs“, um den Unterschied zwischen der Wertproduktivität von einfacher und komplizierter Arbeit einzufangen.

Auch der von Müller abgelehnte, aber von Marx wohlbedacht verwendete Begriff des „individuellen Wertes“ kann mit Hilfe einer textgetreuen mathematischen Modellierung rational rekonstruiert werden: Der individuelle Wert ergibt sich aus der Abweichung einzelner produktiven Einheiten von der durchschnittlichen Arbeitszeit. Dieser Begriff wird in der Arbeitswerttheorie implizit gebraucht, um das Problem des faulen Arbeiters darzustellen, das Marx benutzt, um die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in die werttheoretische Tradition einzuführen. Eine weitere Anwendung erfährt dieser Begriff im Fall einer außerordentlichen Erhöhung der Produktivkraft (MEW 23: 336, 429) oder wenn man die Grenzen einer Volkswirtschaft überschreitet und die Wertbestimmung auf den internationalen Märkten thematisiert: Dann erscheint – vermittelt über den Begriff der Intensität der Arbeit – der national erzeugte Wert im Vergleich mit dem gesellschaftlichen bzw. internationalen Wert als individueller Wert (584).

Fassen wir zusammen: Die abstrakte Arbeit kann nicht unabhängig von der konkreten Arbeit, an die sie gebunden ist, gemessen werden. Müllers Formel (169) hat nur dann einen Sinn, wenn bereits bekannt ist, wieviel Wert in einer Stunde vom Straßenfeger und vom Architekten produziert wird. Dabei muss die Stunde mit einer richtigen, d. h. physikalischen Uhr gemessen werden. Die Formel funktioniert nicht mit einer verschwurbelten politökonomischen Zeit. Ein sinnvoll nach Müllers Formel berechneter Kompliziertheitsgrad ist theoretisch überflüssig, weil die Werte bereits bekannt sind, die man eigentlich mit Hilfe des Kompliziertheitsgrades berechnen will. Nach Marx wird der Kompliziertheitsgrad aufgrund des Werts der Arbeitskräfte bestimmt und ermöglicht die theoretische Berechnung des Werts aller Waren mit Hilfe eines Gleichungssystems auch dann, wenn heterogene Arbeit – Arbeit mit unterschiedlicher Kompliziertheit – betrachtet wird. Im Fall heterogener Arbeit sind die Wertverhältnisse in der Regel nicht mehr proportional zu den Arbeitszeiten.

1.18 Die Intensität der Arbeit

Wie beim Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit geht Müller auch bei der Deutung des Begriffs der Intensität der Arbeit nicht vom „Kapital“, sondern von der Umgangssprache aus.

„Unter der Intensität der Arbeit versteht man [wer ist „man“? Müsste es nicht um Marx’ Verständnis gehen, wenn man seine Theorie darstellt? – Aber weiter im Text: versteht man…] die Dichte ihrer Verausgabung, den Aufwand oder die Menge an lebendiger Arbeit, die in einer Zeiteinheit (Stunde, Tag) geleistet wird. Es ist schwer, sie zu messen. Man verweist oft ersatzweise auf die indirekten Wirkungen ihrer Steigerung wie Berufsunfälle, Berufskrankheiten, Frühinvalidität, um ihre Größe zu schätzen. Denn je größer die Arbeitsverausgabung pro Zeiteinheit, die Anstrengungen, die Schnelligkeit, die körperliche und geistige Konzentration, umso größer sind die Beanspruchung und der Verschleiß der Arbeitskraft.“ (177)

Müller beschreibt Wirkungen einer politökonomischen Größe auf die Arbeitskraft, ohne sie zu definieren, und er meint, man könne sie schwer messen. Ohne eine solche Definition kann man sie, genauer gesagt, gar nicht messen. Die Definition des Marxschen Begriffs der Intensität der Arbeit setzt voraus, dass zwischen den Begriffen „Wert“, „Gebrauchswert“, „Produktivkraft der Arbeit“ und „Arbeitszeit“ exakt unterschieden wird. Hier die ausschlaggebende Textstelle, die auf der Basis einer exakten Unterscheidung der Begriffe ihren Zusammenhang darstellt:

„Der intensivere Arbeitstag verkörpert sich … in mehr Produkten als der minder intensive von gleicher Stundenzahl. Mit erhöhter Produktivkraft liefert zwar auch derselbe Arbeitstag mehr Produkte. Aber im letzteren Fall sinkt der Wert des einzelnen Produkts…, im ersteren Fall bleibt er unverändert…“ (Marx 1890: 547)

Bezeichnen wir die Intensität der Arbeit im Arbeitsprozess A mit der Funktion i(A), die produzierte Menge an Gebrauchswerten mit der Funktion a(A), die Produktivkraft der Arbeit mit π(A) und den Wert eines einzelnen Produkts mit W(a0), so können wir dem Zitat folgende Proportionen entnehmen:

(Fn. 5: Das Zeichen ∝ heißt „proportional“.)

Diese Proportionen stellen die Bedingungen dar, die ein mathematisches Modell der ökonomischen Theorie von Marx erfüllen muss, wenn es die Intensität der Arbeit modelliert. Sie werden durch folgende Beziehungen erfüllt:

Definition der physischen Produktivität einer einzelnen produktiven Einheit (einzelner Handwerker, einzelner Betrieb etc.):

(Quaas 2016, Gl. 3.14)

Definition der physischen Produktivität des Industriezweiges, in dem Gebrauchswerte der Sorte j hergestellt werden:

(Gl. 3.16)

Politökonomische Definition der Intensität der Arbeit im Betrieb j:

(Gl. 3.19)

Menge an Gebrauchswerten, die im Betrieb j hergestellt werden:

(Gl. 3.20)

Das Wertprodukt (der Neuwert) des Betriebes j:

(Gl. 3.21)

u(A) ist der durchschnittliche Kompliziertheitsgrad der Arbeit bei der Produktion der Warenmenge aj, und t(Aj) die dazu in der j-ten produktiven Einheit benötigte Zeit. Der Wert der Wareneinheit a0 ist:

(Gl. 3.8)

Da Müller Quaas (2016) rezensiert hat, in dem diese Formeln mit sehr vielen Erläuterungen aufgrund des Marxschen Textes abgeleitet werden, darf man annehmen, dass er diese Formeln kennt, aber den Zusammenhang zwischen den verschiedenen politökonomischen Größen nicht akzeptieren kann, weil er die Wertgröße nicht von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit unterscheidet. Die Formeln (3.21) und (3.8) können deshalb nicht in seine Darstellung der Arbeitsintensität aufgenommen werden. In diesen Formeln spielt der Kompliziertheitsgrad der Arbeit eine Rolle, der in Quaas (2016) auf der Grundlage anderer Textstellen im „Kapital“ eingeführt worden ist. Diese Größe hat die Dimension Wert je Zeiteinheit und kann auch als Wertproduktivität der Arbeit interpretiert werden.

Dass ohne Kenntnis der exakten Zusammenhänge zwischen den Marxschen Kategorien Verwechslungen und andere Unsicherheiten auftreten, zeigen Müllers weitere Ausführungen. So schreibt er: „Steigt die Intensität der Arbeit bei unveränderter Produktivität in einem Betrieb, ändert sich der Wert des Produkts nicht.“ (177) Der erste Teil des Satzes enthält einen logischen Widerspruch. Wie die Formel (3.19) zeigt, bedeutet eine Steigerung der Intensität der Arbeit in einem Betrieb, dass dessen individuelle Produktivität steigt. Müller simuliert eine völlig unmögliche Situation: Steigerung der Intensität bei gleichbleibender Produktivkraft der Arbeit! Gleich der nächste Satz bestätigt meine Kritik, weil er besagt, dass es eine „durch den Intensitätsanstieg ermöglichte höhere Anzahl der Produkte des Betriebs“ gibt. Was anderes ist das als eine höhere Produktivität? Diese muss allerdings nicht nur möglich, sondern tatsächlich realisiert sein, um von einer höheren Intensität zu sprechen. Der Rest des Satzes stimmt dann wieder mit Marx und den obigen Formeln überein: „Die durch den Intensitätsanstieg ermöglichte höhere Anzahl der Produkte des Betriebs wird zum bisherigen Wert [siehe Gleichung 3.8] produziert, so dass das Wertprodukt insgesamt steigt [siehe Gleichung 3.21].“ (177)

Des Weiteren diskutiert Müller den Fall, dass sich die Intensität nicht nur in einem einzelnen Betrieb erhöht, sondern im ganzen Industriezweig. Hier zeigen die Formeln (3.16) und (3.19), was passiert: Die Produktivität des ganzen Zweiges erhöht sich, wodurch sich das Maß der Intensität der Arbeit des einzelnen Betriebes verringert, wenn seine individuelle Produktivität nicht im gleichen Maße mitzieht. Müller drückt diesen Zusammenhang so aus: „Erhöht sich die Intensität der Arbeit dagegen im Durchschnitt aller Betriebe, ist der Fall anders. Da der Wert eine gesellschaftlich bestimmte Größe ist, muss dies auch gelten für die Arbeitsintensität als einer Komponente der Wertgröße.“ Etc. etc. – Anstatt die exakten Zusammenhänge anzugeben, die Müller durch seine Lektüre von Quaas (2016) kennen könnte, werden sie mit Phrasen (177 f.) über die Definition der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit (MEW 23: 53), die hierbei keine Rolle spielt, zugetextet.

1.19 Der Wert, ein gesellschaftliches Verhältnis?

Wie viele seiner ehemaligen und noch aktiven Kollegen (vielleicht mit Ausnahme von Rünzi in Z 130: 145 ff.) ist Müller der Meinung, dass der Wert ein gesellschaftliches Verhältnis ist: „Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, d.h. die Wertgröße, ist die Quantifizierung des Produktionsverhältnisses.“ (219) Produktionsverhältnisse gibt es viele. Welches Produktionsverhältnis der Wert ist, verrät uns Müller nicht. Oder meint er, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit selbst ein Produktionsverhältnis ist? Andererseits ist sie eine bestimmte Quantität, braucht also gar nicht erst quantifiziert zu werden, und außerdem ist sie, nach Müller, identisch mit dem Wert. Was Müller hier also ohne weitere Begründung sagt, ist, dass der Wert ein Produktionsverhältnis ist.

Wäre diese Interpretation richtig, hätte sich Marx in seinem „Kapital“ den gesamten Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis (MEW 23: 85 ff.) sparen können.

Unter dem Fetischcharakter der Waren versteht er ein Phänomen, das dem modernen Menschen kaum noch erklärungsbedürftig erscheint, weil sich fast die ganze Menschheit an die Tatsache gewöhnt hat, dass die Dinge einen gewissen Wert haben, der geschätzt wird, indem den Waren Preise zugeordnet werden. Dass sich in den Preisen, wenn auch sehr vermittelt, Qualität und Quantität der Arbeit spiegelt, die jene Waren hervorgebracht hat, erscheint als eine Selbstverständlichkeit, ohne dass dadurch alle Marktteilnehmer zu Arbeitswerttheoretikern geworden wären. Für Marx und vielleicht auch für die gebildeten und rational denkenden Menschen seiner Zeit erschien es aber durchaus bemerkenswert zu sein, dass die Produkte menschlicher Arbeit sich gegenüber dieser Arbeit verselbständigen, indem sie auf dem Markt vermittels ihres Werts „sagen“, wo es lang geht; soll heißen, der Wert einer begehrten Ware determiniert, wieviel von der eigenen Ware aufgeboten werden muss, um sie einzutauschen. Der Eindruck entsteht, als ob die Dinge (Waren) über die Menschen herrschen, deren Arbeit sie doch erst hervorgebracht hat.

Wenn hier Marx’ Erklärung des Warenfetischismus herangezogen wird, dann nicht, um die Leser von der Existenz des entsprechenden Phänomens zu überzeugen, sondern um die analytischen Kategorien deutlich zu machen, mit deren Hilfe er jenes Phänomen beschreibt. In dem oben angegebenen Abschnitt macht Marx als Erstes klar, dass weder die Tatsache, dass Waren Gebrauchswerte sind, noch die Tatsache, dass für ihre Produktion eine bestimmte Menge Arbeit benötigt wird, ein irritierendes Problem darstellt. Irritierend sei, dass „das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer … die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte“ erhält, und eben in dieser Form die Ursache des Warenfetischismus besteht. (MEW 23: 86)

Demnach wird der mystische Charakter der Ware durch das verursacht, was ich oben die erste Vergegenständlichung genannt habe: Die Darstellung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, einer Eigenschaft von Arbeitsprozessen, durch den Wert der Ware, eine Eigenschaft eines Dinges.

„Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt…“ (Ebd.)

Marx unterscheidet hier wie an vielen anderen Stellen im „Kapital“ zwischen dem Ding „Ware“ auf der einen Seite und dem Prozess „Arbeit“ auf der anderen. Darin, dass der Umfang der Arbeit anhand der Arbeitszeit gemessen wird, ist nichts Mystisches zu sehen.

„In allen Zuständen mußte die Arbeitszeit, welche die Produktion der Lebensmittel kostet, den Menschen interessieren, obgleich nicht gleichmäßig auf verschiedenen Entwicklungsstufen.“ (A.a.O.: 85 f.)

Gibt es jedoch unter den Bedingungen der Arbeitsteilung und des Warenaustausches mehrere produktive Einheiten, die unabhängig voneinander dasselbe Produkt herstellen und dann auf einem gemeinsamen Markt anbieten, so bilden die unterschiedlichen Arbeitszeiten, die sie für ihre Produkte benötigt haben, das gesellschaftliche Verhältnis, das die Produzenten unabhängig von ihrem Wissen und Wollen zueinander eingehen und dass nun, beim Austausch der Waren auf dem Markt, aktiviert wird, indem der Wert die Tauschverhältnisse bestimmt. Das zugrunde liegende Produktionsverhältnis spiegelt sich in den Warenwerten als „phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen“ (a.a.O.: 86) wider, indem nun nur noch die Arbeitszeit als wertbildend zählt, die dem durchschnittlichen Aufwand entspricht. – Hieraus folgt, dass der Wert eine Eigenschaft der Ware und die Arbeitszeit eine Eigenschaft der sie produzierenden Arbeit ist. Wird dieser Unterschied eingeebnet, fällt Marx’ Kritik am Warenfetischismus in sich zusammen.

Ist der Wert nun ein Produktionsverhältnis oder nicht? Nein, das ist er nicht. Philosophisch exakt ist die Feststellung, dass der Wert eine Eigenschaft der Ware ist, die auf einem Produktionsverhältnis beruht. Eigenschaften eines ordinären sinnlichen Dinges sind niemals identisch mit den Verhältnissen, die ihnen zugrunde liegen und die sie unter Umständen zur Darstellung bringen. Der Wert ist eine gesellschaftliche Eigenschaft der Ware, weil er in gegenständlicher Form das durchschnittliche Maß an Arbeitszeit widerspiegelt, dass zur Herstellung seines Trägers, der Ware, benötigt wird. Und da sich die Arbeitszeit mit dem technischen Fortschritt ändert, ist der Wert eine Eigenschaft, die, wie Aristoteles sagen würde, eines Mehr oder Weniger fähig ist, also in der heutigen Terminologie: eine Größe. In diesem Sinn ist der Wert eine gesellschaftliche bestimmte Eigenschaft der Ware, deren Größe von den Akteuren auf dem Markt geschätzt wird, um durch den Tausch mit einer anderen Ware nicht um ihren Arbeitszeitaufwand betrogen zu werden.

1.20 Produktionspreis

Kopfschütteln kann man nur, wenn Müller versucht, seine kruden Vorstellungen über die Marxsche Arbeitswerttheorie auf komplexere Phänomene anzuwenden. Bei den beiden Themen „Herausbildung von Produktionspreisen und einer einheitlichen Profitrate“ und „Monopolpreisbildung“ stellt er eine Reihe von theoretischen Positionen dar, die im deutschsprachigen Raum vertreten werden, ohne in der Lage zu sein, seine eigene Auffassung dazu schlüssig darzulegen. (200-213) Sein großes Rätsel scheint zu sein, was unter diesen Bedingungen mit dem Wert der Waren geschieht, der die Funktion, den Warenaustausch zu determinieren, völlig verloren zu haben scheint. Dabei hätte Müller doch wenigstens feststellen können, dass die Modifikation der Wertestruktur durch den Markt, durch das fixe Kapital und durch Monopole nicht das Geringste am Bildungsmechanismus des Neuwerts in der Produktion von Waren ändert. Er weiß weder, wie der Wertbildungsmechanismus in die komplexeren Strukturen einer Produktion mit fixem Kapital integriert wird, noch hat er einen klaren Begriff von diesem Mechanismus, da für ihn gar kein Unterschied zwischen dem Wert und der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit besteht, von der er glaubt, dass sie eine von der physischen Zeit abweichende politökonomische Zeit sei. Für jeden Kenner des „Kapital“ muss es geradezu grotesk anmuten, im Kapitel über das Geld (221 ff.) zu lesen:

„Der Wert der Ware kann nicht direkt als Arbeitszeit erscheinen, sondern muss sich eine Form geben, um sichtbar zu werden. Diese Form ist der Tauschwert, der auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung in Geld übergeht.“ (220)

Außer in der Arbeitszeitrechnung Müllers und der anderen Neoricardianer wird der Wert einer Ware nirgends in Arbeitszeit angegeben, und schon gar nicht von Marx, geschweige denn, dass von einer Erscheinung des Werts in Arbeitszeiteinheiten die Rede ist. Marx sagt, dass die Arbeitszeit das Maß der Wertgröße ist, nicht dass sie die Wertgröße ist. Man könnte meinen, dass sich Müller unter einer von der Arbeitszeit unterschiedenen Wertgröße nichts vorstellen kann, weil er den Begriff des Maßes nicht ernst nimmt. Doch so ist es nicht. Im Fall des Geldes kennt er die vermittelnde Funktion dieses Begriffes genau: „Geld dient als Maße der Werte und Maßstab der Preise…“ (224) Nur wendet er die gleiche Logik nicht auf das Verhältnis zwischen Wert und Arbeitszeit an.

1.21 Geld

Als Grundlage für ein Kriterium, was als Geld gelten darf, stellt Müller die folgende These auf: „Ein Messmittel für Werte muss wertvoll sein.“ Er begründet dieses Prinzip mit einem sinngemäßen Zitat aus Georg Simmels Philosophie des Geldes (Simmel 2009: 156): „Ein Messmittel für Längen muss lang, ein Messmittel für Gewichte schwer, ein Messmittel für Rauminhalte räumlich ausgedehnt sein.“ (225) Das ist zwar im Prinzip richtig, die Messung einer Größe kann aber auch über andere Eigenschaften erfolgen, und zwar derart, dass die zu messende Eigenschaft vom Messmittel überhaupt nicht geteilt zu werden braucht: So spielt beispielsweise das Gewicht einer Federwage überhaupt keine Rolle bei einer Gewichtsmessung. Bei Messungen der Länge, der Zeit und des Werts spielen viele Gesetzmäßigkeiten eine Rolle, die stets auf dem neusten Stand der Wissenschaft beruhen. Das Alter von Fossilien bestimmt man mit der C14-Methode, wobei die zeitliche Erstreckung der Messung keinen Einfluss auf das Messergebnis hat. Es gibt also gute Gründe, in Zweifel zu ziehen, dass Müllers Analogie stichhaltig ist. Außerdem ist er in dieser Frage, wie er indirekt selbst bestätigt, nicht auf dem neusten Stand der Wissenschaft. Denn er vertritt eine Arbeitszeitrechnung, die nichts anderes ist als ein primitives Modell der Neoricardianer. Seinem eigenen Urteil über diese Schule gemäß, fällt er damit hinter Marx zurück. Die Zweifel werden noch verstärkt, wenn man über seine geldtheoretische Konsequenz nachdenkt: „Bloße Zeichen oder Symbole ohne Wert können keine Werte messen.“ (226) Dass diese Theorie der modernen Geldtheorie nicht gerecht wird, liegt auf der Hand und kann nachgelesen werden. (Quaas 2018) Aber auch wenn man im Rahmen der Arbeitswerttheorie verbleibt, macht dieser Grundsatz keinen Sinn. Es ist Müller selbst, der sein Prinzip widerlegt, wenn er Werte aus der Struktur von Input-Output-Tabellen ableiten will (146 ff.) bzw. auf solche Ableitungen hinweist (105). Im Fall der Arbeitswerttheorie gibt es keine andere Möglichkeit, die Werte zu bestimmen, als sie anhand empirischer Daten über die volkswirtschaftliche Struktur zu berechnen – auch das ist eine Messung. Deshalb ist Müllers Unterscheidung zwischen Messen und Rechnen zwar im Prinzip richtig, berücksichtigt aber nicht die besonderen Umstände der Arbeitswerttheorie. (Vgl. auch seine Kritik am Autorenkollektiv 1982: S.288) Wie wenig er selbst den Unterschied zwischen Rechnen und Messen beachtet, zeigt eine andere Stelle, die offensichtlich falsch ist: „Um die Arbeitszeit zu kennen, muss man sie berechnen.“ (284) Der Wert muss berechnet werden, die Arbeitszeit wird mit physikalischen Uhren gemessen.

Worauf Müller hinaus will, ist, die für ihn unverzichtbare Rolle der Edelmetalle bei der praktischen „Messung“ des Werts der Waren zu unterstreichen. Unerklärlich bleibt dann aber, wieso Gold oder Silbermünzen im Zirkulationsprozess „durch jedes andere Zeichen, das ein bestimmtes Quantum seiner Einheit ausdrückt, ersetzt werden“ können. (229) Müller sagt das, weil Marx das so sieht. (MEW 42: 142) Aber wo bleibt hier die Logik innerhalb seiner eigenen Interpretation?

Wie es Müller mit der Logik hält, sieht man anhand folgender Argumentation. Seine bisherige Geldtheorie fasst er mit folgendem definitionsartigen Satz zusammen und fährt dann fort, ihn zu verteidigen: „Zentralbankgeld, inkonvertible Banknoten sind dem Charakter nach Papiergeld mit Annahmezwang. Sie sind Forderungen nur der buchhalterischen Erscheinung nach. Es gibt kein Forderungsobjekt wie beim Kreditgeld. Dem widerspricht Georg Quaas: Zentralbanknoten seien auf der Ebene des Interbankenmarktes ‚echte Forderungen an die Zentralbank mit einem im Kreditvertrag definierten Forderungsobjekt – die hinterlegten Sicherheiten.‘ (Quaas 2018: 32) Richtig ist das nur bei Verpfändung und beim Verkauf der Wertpapiere, und es trifft auch nur auf die Bankbeziehungen zu. Der ‚normale‘ Inhaber einer Zentralbanknote besitzt mit ihr keine Forderung an die Zentralbank.“ (233)

So geht Müller mit einem Widerspruch um: Den Hinweis, dass es entgegen seiner Meinung, ein Forderungsobjekt gibt, an das allerdings der Normalbürger nicht herankommt, weil nur Banken und Staaten mit Zentralbanken handeln dürfen (ausgenommen Elon Musk), begegnet er damit, genau den gleichen Unsinn im seinem neusten Buch noch einmal zu behaupten: „Es gibt kein Forderungsobjekt…“ (233) Ihm scheint nicht klar zu sein, dass der überwiegende Teil der Geldbewegungen auf dem Interbankenmarkt abgewickelt wird, wenn er argumentiert, dass der Einwand ja nur die Bankbeziehungen betrifft. Auch hat man beim Lesen der Müllerschen Vorstellungen über das moderne Bankwesen den Eindruck, als seien Verpfändung und Verkauf von Wertpapieren nur so ein paar nebensächliche Prozesse, die man vernachlässigen könnte. Dabei gibt es gar keine anderen Prozesse von dieser Größenordnung, durch die das moderne Geld – wie man so schön sagt – geschöpft wird. Der Verkauf von Gold an eine Zentralbank macht nur einen Bruchteil von vielleicht 10 Prozent aus. Was Müller hier thematisch als vernachlässigbar herunterspielt, sollte eigentlich der Gegenstand eines Geldtheoretikers auch dann sein, wenn er sich selbst als Traditionsmarxist bezeichnet.

Müller zitiert zustimmend Stephan Krüger: „Das inkonvertible Repräsentativgeld ‚bleibt durch unsichtbare Fäden an die metallische Grundlage der Geldzirkulation, die ihrerseits die Fundamentalbestimmung des Geldes als Ware ausdrückt und Bedingung für die Wertbestimmung durch gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, gebunden‘. (Krüger 2012: 191)“ (Müller 274)

Man sieht, wozu der Irrationalismus in der Werttheorie führt: zum Mystizismus, sobald man auf das Geld zu sprechen kommt. Verblendet davon, in der Frage des modernen Geldes einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, übersieht Müller, dass Krüger im Nebensatz die monetäre Werttheorie vertritt: das Geld sei Bedingung für die Wertbestimmung durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Nicht so bei Marx. Dabei kann der heimliche Goldfetischist Müller nicht einmal erklären, warum „Gold und Silber am besten geeignet“ sind, „die Geldrolle zu übernehmen.“ (261) Die von ihm benannten Eigenschaften „Schönheit, Glanz und Formbarkeit“ machen die Edelmetalle tauglich zur Herstellung von Schmuck. Für ihre Rolle als Geld sind dagegen – jedenfalls nach Marx – andere Eigenschaften ausschlaggebend: die gleichförmige Qualität des Materials, die Teil und Zusammensetzbarkeit und die leichte Transportierbarkeit (MEW 23: 104).

1.22 Datengrundlage

Einen Marxisten stellt man sich meistens so vor, dass er jedes Wort von Marx auf die Goldwaage legt und nichts anderes gelten lässt. So ähnlich kann man sich auch einen Dogmenhistoriker vorstellen, dem es u. a. darum geht, ob Marx von seinen Anhängern richtig interpretiert wird. Der Unterschied zwischen beiden besteht nur darin, dass letzterer nicht darauf besteht, dass die von ihm interpretierten Theorien wahr sind und deshalb die einzig richtige Erklärung der kapitalistischen Warenproduktion darstellen. Seine Kontrollinstanz ist die ökonomische Theorie von Karl Marx, so wie sie in „Das Kapital. Erster Band“ dargestellt wird. Doch Klaus Müller geht es vorrangig um etwas anderes: Er möchte mit Hilfe jener Theorie „hinter die Kulissen des real existierenden Kapitalismus des 21. Jahrhunderts“ schauen. (11) Deshalb steht im Mittelpunkt seines Buches „die Frage, ob Marx’ ökonomische Theorien in der Gegenwart gültig sind und sie helfen, den aktuellen Kapitalismus trotz seiner Veränderungen zu verstehen.“ (19) Die Kontrollinstanz sind in diesem Fall die Beobachtungen, die Müller in seinem alltäglichen Konsum der Medien über den „real existierenden Kapitalismus“ macht und die er für wichtig hält: Denn die empirische Basis für die Überprüfung volkswirtschaftlicher Theorien, die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen nämlich, benutzt er nicht für eine systematische Analyse, sondern bestenfalls zur Ausschmückung seiner Beobachtungen. Und obwohl es Müller angeblich nicht darum geht, „um jeden Preis recht zu haben“ (14), setzt seine Zielstellung voraus, dass er Marx’ Theorie auf eine Weise verinnerlich hat, dass er sich umstandslos der Aufgabe widmen kann, zu überprüfen, ob sie gültig ist, und den Kapitalismus, so wie er ihn wahrnimmt, zu erklären.

Die eigene Lesart der Marxschen Schriften als Interpretation zu betrachten, die selbst überprüfungswürdig ist, bevor man kühn ans Werk geht, diese anhand „der Realität“ überprüfen zu wollen, dazu gehört nicht nur eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein, sondern auch ein hübsches Maß an Ignoranz gegenüber den notwendigen Zwischenschritten, die eine solche Überprüfung erst möglich machen. Ich nenne hier zwei: Erstens eine durch den Originaltext gesicherte, weil gründlich überprüfte mathematische Darstellung der Marxschen Theorie, und zweitens eine Operationalisierung dieser Darstellung, so dass sie mit Hilfe der üblichen Methoden der empirischen Sozialforschung und auf der Grundlage der VGR-Daten anhand der Realität überprüft werden kann. Mit Ausnahme seiner fiktiven Arbeitszeitrechnung sucht man Schritte in dieser Richtung bei Müller vergebens.

In diesem Zusammenhang wird besonders gern eine meiner Aussagen zitiert, die sich auf die arg beschränkten Möglichkeiten eines einzelnen Produzenten bezieht, die Werte seiner Produkte direkt zu messen: „…nicht, weil dies prinzipiell unmöglich wäre, sondern weil er keinen Zugang zu den Produktionsprozessen hat, die unabhängig von ihm betrieben werden und deren Merkmale in die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit eingehen.‘ (Quaas 2016: 82)“ (Müller 2024: 93) Obwohl Müller ein langes Plädoyer für die Messbarkeit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit hält, die für ihn identisch mit der Wertgröße ist, fungiert jener Satz als Ausrede, die empirische Überprüfung leider noch nicht leisten zu können. Dabei verschweigt er, dass zwar der einzelne Unternehmer enorme Schwierigkeiten haben würde, beim Abgleich seiner eigenen Daten mit der volkswirtschaftlichen Statistik zu bestimmen, ob und in welchem Maße die bei ihm geleistete Arbeit der gesellschaftlichen Notwendigkeit entspricht, dass sich die Situation aber aus volkswirtschaftlicher Sicht völlig anders darstellt: Sieht man von den Außenwirtschaftsbeziehungen ab, so ist, bezogen auf die gesamte Volkswirtschaft, die in einem Industriezweig aufgewandte Arbeitszeit identisch mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit des in diesem Zweig hergestellten Produkts. Dafür sind alle Daten vorhanden, deren Komplexität aber – zugegeben – zahlreiche weitere Überlegungen erfordert, die man im „Kapital“ nicht finden wird.

1.23 Definition der Ware

Eine Bemerkung von Backhaus, dass Marx in der Darstellung „der frühen Stufen des Tauschs niemals streng zwischen ‚Produkt‘ und ‚Ware‘ unterschieden“ habe (249), nimmt Müller zum Anlass, sich zur Definition des Begriffs der Ware zu äußern. Wie wir im Abschnitt zur abstrakten und konkreten Arbeit gesehen haben, ist der Begriff der Ware für Müller deshalb so wichtig, weil seiner Interpretation gemäß nur Waren Träger von Wert sind, während bloße Produkte menschlicher Arbeit, die beispielsweise für den Eigenverbrauch hergestellt werden, lediglich als Gebrauchswerte gelten dürfen – sofern sie nützlich sind, versteht sich.

Müller hat ein klares Kriterium, wann ein Produkt menschlicher Arbeit eine Ware ist: „Eine Ware ist immer ein Arbeitsprodukt, das mit der Absicht produziert wird, es gegen ein anderes zu tauschen.“ (249) Folglich ist es die Absicht des Produzenten, die ein Produkt zur Ware macht. Mit ein wenig philosophischem Hintergrund kann man nicht umhin, Zweifel anzumelden, ob der Materialist Marx die begriffliche Basis seiner ökonomischen Theorie mit einem derart subjektiven Kriterium schwächen wollte: Sie würde nur auf diejenigen Produzenten zutreffen, über deren Absichten sichere Erkenntnisse vorliegen. Hatte beispielsweise Elon Musk die Absicht, seine Raketen gegen Dollar zu tauschen, oder wollte er damit selbst zum Mars fliegen? Die Antwort entscheidet darüber, ob diese speziellen Produkte menschlicher Arbeit einen Wert haben, denn das ist nur der Fall, wenn sie Waren sind.

Doch lassen wir die philosophischen Finessen. Die Frage wird unter ökonomischem Aspekt interessant, wenn wir mit Müller folgenden Fall betrachten: „Wird ein Produkt dagegen hergestellt für die eigene Konsumtion und dennoch getauscht, weil zufällig zu viel produziert wurde, … könnte man von einem unmittelbaren Produktentausch sprechen.“ (249) Könnte man, sagt Müller, aber de facto ist genau das die Konsequenz seiner eigenen Definition der Ware: Das Produkt wird zwar getauscht, aber es wurde nicht mit einer Tauschabsicht hergestellt. Also ist es kein Warentausch, sondern ein Produktentausch. Als Beleg zieht Müller folgenden Text heran:

„Der unmittelbare Produktenaustausch hat einerseits die Form des einfachen Wertausdrucks und hat sie andererseits noch nicht. Jene Form war x Ware A = y Ware B. Die Form des unmittelbaren Produktenaustausches ist: x Gebrauchsgegenstand A = y Gebrauchsgegenstand B. Die Dinge A und B sind hier nicht Waren vor dem Austausch, sondern werden es erst durch denselben.“ (MWE 23: 102)

Müller interpretiert diesen Text korrekt, aber ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass der Begriff des Produktenaustausches widersprüchlich interpretiert werden kann:

„Offenbar unterstellt Marx auch beim unmittelbaren Produktenaustausch, dass schon Waren getauscht werden. M. a. W.: Jeglicher Tausch macht ein Produkt zur Ware. ‚Im unmittelbaren Produktenaustausch ist jede Ware unmittelbar Tauschmittel für ihren Besitzer.‘“ (249)

Eines scheint klar zu sein: Marx definiert den Begriff der Ware, ohne ihn von den subjektiven Absichten des Produzenten abhängig zu machen. Um eine Ware zu sein, genügt es, wenn ein Objekt auf dem Markt feilgeboten und getauscht wird. Folglich werden auch im unmittelbaren Produktenaustausch Waren getauscht. Doch wie kann man von einem „Produktenaustausch“ sprechen, wenn die Produkte im Tausch bereits als Waren angesehen werden müssen? Müsste man nicht die Konsequenz ziehen, dass es einen Produktenaustausch gar nicht geben kann?

Wahrscheinlich, um dieses Dilemma zu lösen, betont Müller: „Marx orientiert auf das Dynamische, das sich Entwickelnde.“ (250) Im Klartext heißt das: Von einem Produktenaustausch spricht Marx dann, wenn die Tauschobjekte nur zufällig getauscht werden. Zwar sind die Produkte im Tausch Waren, aber das ist nur eine momentane Eigenschaft, da sie ja nicht mit der Absicht produziert worden sind, getauscht zu werden. Müller zieht gegen Backhaus die ebenfalls widersprüchlich interpretierbare Konsequenz:

„Die beiden Zitate stützen die Auffassung, dass Marx bei der Analyse der einfachen, einzelnen oder zufälligen Wertform den Warentausch meint und keinen Tausch von Produkten, die keine Waren sind.“ (249)

Wie gesagt: Wenn man die Aussage, dass Produkte in dem Moment zu Waren werden, wenn sie getauscht werden, konsequent beachtet, dann gibt es keinen Tausch von Produkten, die keine Waren sind. Dabei hätte Müller die Möglichkeit, diese Widersprüchlichkeit zu vermeiden und den Begriff der Ware auf einfache und objektive Weise zu definieren, nämlich als nützliche Dinge, die einen Wert haben. Da er ja der Meinung ist, dass Gebrauchswerte, die nicht für den Markt hergestellt werden, keinen Wert haben, wäre mit jener Definition die Abgrenzung zu den wertlosen, aber nützlichen Produkten menschlicher Arbeit gegeben. Für den Autor dieser Zeilen, besteht diese Möglichkeit nicht, da er der Meinung ist, dass alle nützlichen Produkte menschlicher Arbeit einen Wert haben. Bei dieser Interpretation muss man sich enger an Marx halten, wonach ein Produkt dann zur Ware wird, wenn es feilgeboten wird.

1.24 Abschreibung

Müller definiert: „Abschreibung ist Wertverschleiß, genauer: ist übertragener Wert des verbrauchten fixen Kapitals.“ (317) Der moderne Volkswirt wird dem zustimmen. Doch was hat Marx unter diesem Begriff verstanden? Dazu muss man etwas weiter ausholen und bedenken, dass sich die moderne Terminologie erst lange nach Marx’ Zeiten herausgebildet hat.

Grundlegend für Marx’ Darstellung des Wertverlustes des fixen Kapitals ist der Begriff des Gebrauchswerts. Müller versteht unter diesem Begriff die Nützlichkeit eines Dinges bzw. den Nutzen, den es stiftet. (424) Für Marx ist dagegen der Gebrauchswert nicht, wie in der Umgangssprache, die nützliche Eigenschaft eines Dinges, sondern das nützliche Ding selbst. Hier der ausschlaggebende Text:

„Aber diese Nützlichkeit schwebt nicht in der Luft. Durch die Eigenschaften des Warenkörpers bedingt, existiert sie nicht ohne denselben. Der Warenkörper selbst, wie Eisen, Weizen, Diamant usw., ist daher ein Gebrauchswert oder Gut.“ (MEW 23: 50)

Es ist also nicht, wie Müller (317) behauptet, Quaas, der den Gebrauchswert misst, indem er Waren zählt, sondern Marx. Dabei ist stets die Nützlichkeit der betrachteten Ware vorausgesetzt. Müller verwechselt die Eigenschaft eines Dinges, nützlich zu sein, mit diesem Ding selbst. Das ist nicht sein einziger ontologischer Mismatch. Im Fall seiner Identifikation der Wertgröße mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit konfundiert er die Eigenschaft eines Dinges mit der eines Prozesses. (Vgl. Punkt 1.5)

An der Nützlichkeit hat das Zählen dann übrigens auch seine Grenze. Beispiel: Eine voll funktionsfähige Maschine, die moralisch verschlissen ist und deshalb durch eine modernere Maschine ersetzt wird, hat ihre Nützlichkeit verloren und „zählt“ deshalb zwar noch als Ding, aber nicht als Gebrauchswert, sie ist kein Gebrauchswert mehr. Mir scheint, dass diese Marxsche Logik leicht nachvollziehbar ist. Aber nicht von Müller (315). Der Grund dafür besteht darin, dass er den exakten Marxschen Begriff des Gebrauchswerts durch die umgangssprachliche Bedeutung ersetzt. Aber auch von dieser Warte aus müsste man eigentlich erkennen können, dass eine moralisch verschlissene Maschine, die ersetzt wird, keinen Gebrauchswert mehr hat.

Der exakte Begriff des Gebrauchswerts hat die Konsequenz, dass Marx die Abschreibung primär physisch definiert. In einem Arbeitsprozess erleidet das Arbeitsmittel nach Marx einen täglichen Verlust an Gebrauchswert. „Betrachten wir … die ganze Periode, während deren ein solches Arbeitsmittel dient, von dem Tag seines Eintritts in die Werkstätte bis zum Tage seiner Verbannung in die Rumpelkammer, so ist während dieser Periode sein Gebrauchswert von der Arbeit vollständig verzehrt worden…“ (MEW 23: 218) Als Gebrauchswert ist dann die „voll funktionsfähige Maschine“ = 0. In dem gleichen Maße, wie die Maschine im Produktionsprozess ihren Gebrauchswert verliert, erleidet sie dann auch einen Wertverlust, also das, was man im modernen Sprachgebrauch als Abschreibung definiert. Müller gibt zu, dass bei Marx „eine strenge Synchronität zwischen der Gebrauchswert und der Wertminderung besteht“ (308), meint aber, dass sich dies aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht bestätigt hat.

In diesem Punkt zeigt sich wieder einmal, dass es einen Unterschied macht, ob man sich um eine korrekte Interpretation der ökonomischen Theorie von Marx bemüht, oder ob man mit Hilfe dieser Theorie die heutige Welt verstehen will und es mit dem Marxschen Text nicht allzu genau nimmt. Dabei ist Marx’ scheinbar altertümliche und schwer verständliche Terminologie gar nicht so verschieden von der modernen ökonomischen Theorie. Die physische Abschreibung wird beispielsweise von der neoricardianischen Theorie ebenfalls verwendet, vor allem im Modell mit fixem Kapital.
Wie nun kommt Müller damit zurecht, dass aufgrund seines falschen Verständnisses des Gebrauchswerts sein Vorbild Marx die Abschreibung betriebswirtschaftlich gesehen unzutreffend darstellt? Er fälscht Marx’ Darstellung: Marx sage deutlich (wo?), „dass er unter dem physischen Verschleiß nicht den letzteren versteht, sondern den Wertteil, der vom fixen Kapital auf das neue Produkt übergeht.“ (308) Diese Aussage ist jedoch nicht nur unbelegt und falsch, sondern dazu auch noch völlig unlogisch im Rahmen einer Theorie, die den Gebrauchswert streng vom Wert unterscheidet. Der physische Verschleiß sei ein Wertteil! Was für ein absurder Unsinn!

1.25 Mehrwert und konstantes Kapital

Nach Marx setzt sich der Wert eines Produkts aus dem Neuwert und dem auf das Produkt übertragenen konstanten Kapital zusammen. Der Neuwert ist die Summe aus variablem Kapital und Mehrwert. Marx’ Formel dafür ist allgemein bekannt:

W = c + v + m

Müller behauptet, dass der Mehrwert vom konstanten Kapital abhängt: „Wenn der Verbrauch an Produktionsmitteln bei gegebenem Wert (bzw. Preis) sinkt, erhöht sich der Mehrwert bzw. der Profit.“ „Der Mehrwert steigt, wenn der Einsatz bzw. der Verbrauch an Produktionsmitteln, an konstantem Kapital, sinkt.“ (322)

Der erste Satz unterscheidet nicht zwischen Wert und Preis sowie zwischen Mehrwert und Profit. Aufgrund dieser kategorialen Konfusion ist der zweite Satz in dieser Allgemeinheit behauptet falsch. Ohne genauere Angaben, warum der Verbrauch an Produktionnsmitteln sinkt, kann die obige Formel auch so interpretiert werden: Sinkt das konstante Kapital, sinkt auch der Wert des Produkts. Der Neuwert bleibt unverändert, und bei gleichbleibendem variablen Kapital bleibt auch der Mehrwert konstant.

Müller versucht hier, den Extramehrwert zu erklären. Dafür sind seine Begriffe und seine Vorstellungen über ihren Zusammenhang zu grob. – Sinkt das konstante Kapital in einer einzelnen Produktionsstätte, ist die Frage entscheidend, welchen Anteil sie an der Gesamtproduktion des entsprechenden Industriezweiges hat. Davon hängt ab, wie stark sich die erhöhte Produktivkraft auf die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auswirkt. Auf jeden Fall sinkt der Wert des Produkts W, zumindest ein wenig. Bleibt der Preis, wie Müller unterstellt, konstant, eignet sich der Kapitaleigner einen Extramehrwert an, der aber erstens kleiner ist als die Verringerung von c und der zweitens zur Kategorie des Marktwertes gehört. Übernehmen die anderen Produzenten derselben Art Ware die neue Technik, so sinkt der Wert W ab auf die neue Summe und damit verschwindet auch der Extramehrwert. Am Ende des Ausgleichsprozesses hat der Mehrwert dieselbe Höhe wie vorher.

1.26 Abgeschriebene Maschinen

Müller diskutiert ernsthaft die Frage, ob Maschinen, die bereits abgeschrieben sind, Wert erzeugen, wenn sie trotz Abschreibung weiter im Produktionsprozess eingesetzt werden. (322-325) Eine Lösung hat er nicht anzubieten. Er kann auch keine anbieten, da er Marx’ Begriff der Abschreibung aus betriebswirtschaftlicher Sicht abgelehnt und in dieser Hinsicht verfälscht hat. Aber Marx hat eine einfache Lösung jenes angeblichen „Problems“. Diese wird den modernen Ökonomen und Klaus Müller zwar nicht befriedigen, aber sie ist völlig klar: Wenn die angeblich „abgeschriebene“ Maschine weiter zur Produktion verwendet wird, ist ihr Gebrauchswert noch nicht auf null gesunken und dem entsprechend gibt sie ihren Restwert weiter an das Produkt ab.

Aus der Sicht einer Definition der Abschreibung, die sich auf den Gebrauchswert und nicht auf den Wert stützt, wird die Abschreibung durch die „Lebenszeit“ eines Arbeitsmittels bestimmt, und diese ist noch nicht beendet, wenn die Maschine ihre Rolle im Produktionsprozess noch wahrnimmt. (Quaas 2016: 44, Gl. 2.8. In Gleichung 2.10 ist ein Fehler enthalten. Richtig muss es heißen:

wobei c(t) der aktuelle Gebrauchswert, t die Nutzungszeit, T(c) die Lebensdauer und c die Menge des noch nicht verwendeten Gutes ist.)

1.27 Irrationales

Unter diesem Titel schreibt Müller:

„Würde der Arbeiter seine Arbeit verkaufen, wäre die Arbeit eine Ware. Als Ware müsste sie einen Wert haben. Wert ist die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Was wäre der Wert der ‚Ware Arbeit‘? Die Antwort lautete: Acht Stunden Arbeit sind acht Stunden Arbeit wert, da die Verausgabung an Arbeit in Arbeitszeit gemessen wird.“ (227)

Das Komische an dieser Passage ist, dass Müller nicht bemerkt, hier das zentrale Problem seiner eigenen Marx-Interpretation zu beschreiben: Wenn der Wert der quantitative Aspekt der abstrakten Arbeit ist, dann hat die Arbeit einen Wert. Daraus folgt, dass der Wert der Arbeit nicht mehr zu bestimmen ist: Der Satz „Acht Stunden Arbeit sind acht Stunden Arbeit wert“ ist eine Tautologie und deshalb zwar nicht ganz sinnlos, aber inhaltlich nichtssagend. Und wie Müller es richtig einschätzt: Die „Theorie“, dass die Arbeit einen Wert hat, ist irrational. Es ist eine Konsequenz seiner eigenen „Theorie“.

1.28 Organische Zusammensetzung

Unter dem Titel „Kapitalzusammensetzungen“ definiert Müller drei Arten (305): „Die technische Zusammensetzung (TZ) des Kapitals ist die Relation zwischen der Masse der angewandten Produktionsmittel (PM) und der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge (AK): TZ = PM/AK.“ In welchen Einheiten diese Größen angegeben werden, bleibt unklar. Im Fall der PM dürfte das auf eine monetäre Größe hinauslaufen. Oder will er die PM in Kilogramm angeben?

„Die Wertzusammensetzung (WZ) des Kapitals ist das Verhältnis, worin sich das Kapital ‚teilt in konstantes Kapital (c) oder Wert der Produktionsmittel und variables Kapital (v) oder Wert der Arbeitskraft, Gesamtsumme der Arbeitslöhne‘ (MEW 23: 640): WZ = c/v. Die organische Zusammensetzung des Kapitals (OZ) ist eine spezifische WZ und wird wie diese als Quotient c/v ausgedrückt. Bei ihr bleiben die Änderungen der Werte und damit der Preise der PM und Konsumtionsmittel (KM) unberücksichtigt.“ (305)

Das kann nicht sein. Der Wert einer Ware – und PM sind ebenfalls Waren, bevor sie angewandt werden – ist immer aktuell bestimmt, so jedenfalls Marx. Entsprechende Belege liefert Müller selbst (361 f.) Deshalb gibt es keinen Unterschied zwischen WZ und OZ.

1.29 Erweiterte Reproduktion

Marx’ Schema der erweiterten Reproduktion wirft das Problem auf, wo das Geld herkommt, das erforderlich ist, um bei gleicher Umlaufgeschwindigkeit des Geldes die wachsende Warenmasse zu zirkulieren. Müller beschreibt es so:

„Die Frage ist, weshalb die Zirkulation bei gegebener Umlaufgeschwindigkeit des Geldes einen wachsenden Geldbedarf hat. Die Antwort: weil in der Produktion, die ja zur Zirkulation im weitesten Sinne gehört, eine Wertschöpfung stattgefunden hat. In der Produktion entsteht durch die Verausgabung von Arbeit ein höherer Wert, der sich in einer höheren Preissumme äußert, die wiederum eine entsprechende Geldzufuhr nach sich zieht. Um den Wert der Waren zu bezahlen, der den Mehrwert einschließt …, muss eine entsprechende Menge Geld in der Zirkulation sein. Die Frage lautet nicht: Woher kommt das Geld, um den Mehrwert zu realisieren, sondern, woher kommt das Geld überhaupt?“ (345)

Ohne es zu erwähnen, sind wir mit der letzten Frage erneut bei der Geldtheorie gelandet. Müller gibt die richtige Antwort: „Das Geld, das die Wirtschaft braucht, schafft sie sich über Kredite.“ (346) „Das für die erweiterte Reproduktion benötigte zusätzliche Geld wird via Kredite bereitgestellt bzw. abgerufen.“ (Ebd.)

Kredite werden durch Banken bereitgestellt, wenn ihnen von den Unternehmen und sonstigen Kunden hinreichende Sicherheiten geboten werden. Die Banken beziehen das Geld von einer Zentralbank, wenn sie ihrerseits hinreichende Sicherheiten bieten, entweder durch Verpfändung (EZB) oder durch Verkauf (Fed) von Wertpapieren. (Quaas 2018) Daraus folgt, dass das moderne Geld kredit- und nicht goldbasiert ist. Müllers Antwort ist insofern überraschend, als man von einem Goldfetischisten folgende Antwort erwartet hätte: „Hinzugekommen sein kann das Geld auch durch vermehrte Goldproduktion oder Goldentdeckungen…“ (344) Aber darauf kapriziert er sich diesmal nicht.

1.30 Marx’ Kostpreisirrtum

Müller zitiert aus unserem Briefwechsel, wonach ich wohl schreibe: „Denn warum sollte die Summe der Mehrwerte von gestern mit der Summe von Profiten heute übereinstimmen, nur weil man die Summe der gestrigen Werte immer gleich der Summe der heutigen Preise setzen kann? Das macht keinen politökonomischen Sinn.“ (358) Diese Aussage spielt auf die zeitliche Differenz zwischen Kostpreisen und Verkaufspreisen an, die von der Produktion gefüllt wird. M. a. W.: Quaas macht Müller auf die Möglichkeit einer dynamischen Lösung des Transformationsproblems aufmerksam, die, wie Müller wohl weiß, auch von einigen anderen Autoren vertreten wird. (359) Müller kommentiert: „Ich denke, dass Quaas’ Behauptung nicht richtig ist.“ Seine argumentative Antwort besteht in einem System von Töpfen, in die c, v und m verteilt werden. (358) Dazu darf ich in Anlehnung an einen Spruch Albert Einsteins antworten: Mit solchen Apothekermethoden löst man kein Geheimnis des Marxschen „Kapital“. Ausführlich dazu Müller/Quaas 2020: 79-97.

1.31 Mehrwertrate und Produktivität

Ohne klare Kenntnis der quantitativen Strukturen einer ökonomischen Theorie geht alles durcheinander. Ein Beispiel. Müller behauptet generell: „Produktivitätsvergleiche sind nur innerhalb einer Branche möglich und sinnvoll.“ In der Tat macht es keinen Sinn festzustellen, „dass die Anzahl der in einer Stunde behandelten Knochenbrüche höher ist als die Anzahl gefertigter Porzellantassen pro Stunde…“ (368) Da Müller nur eine verschwommene Vorstellung von dem politökonomischen Begriff der Intensität der Arbeit hat, weiß er nicht, dass mit Hilfe dieses Begriffes Produktivitätsvergleiche zwischen Betrieben (produktiven Einheiten) verschiedener Branchen möglich sind. Braucht eine Arztpraxis zur Behandlung eines Knochenbruchs weniger Zeit als im Durchschnitt aller Arztpraxen, so hat die Größe der Arbeitsintensität einen genau bestimmbaren Wert größer als 1. Ist die Anzahl der in einer Stunde gefertigten Porzellantassen in einer Manufaktur kleiner als der Durchschnitt der in einer Stunde hergestellten Porzellantassen aller Manufakturen, so ist deren Arbeitsintensität eine exakt bestimmbare Zahl kleiner als 1. Die Arbeitsintensitäten lassen sich nun miteinander vergleichen, da es sich um dimensionslose Zahlen handelt. Bezogen auf das Beispiel wird man zu dem Schluss kommen, dass die ausgewählte Arztpraxis eine wesentlich höhere Intensität und damit mittelbar auch eine, am zweiglichen Durchschnitt gemessene, wesentlich höhere Produktivität entwickelt als die Porzellanmanufaktur.

Im Widerspruch zu seiner generellen (aber theoretisch falschen) Feststellung der Unvergleichbarkeit von Betrieben unterschiedlicher Branchen hinsichtlich ihrer Produktivität, setzt Müller mit dem folgenden Satz fort: „Und doch ist die Produktivität über ihre positive Beeinflussung der Mehrwertrate von Bedeutung. Es kann als gesichert gelten, dass die Arbeitsproduktivität in Zweigen mit hoher Wertzusammensetzung höher als in Zweigen mit niedriger Wertzusammensetzung ist.“ (368 f.) Wieder stolpert Müller darüber, dass er an die Stelle einer exakten Begrifflichkeit Alltagsvorstellungen setzt: Es scheint plausibel zu sein, dass eine produktive Einheit auf der Basis einer hohen organischen Zusammensetzung mehr Produkte herstellt als eine produktive Einheit mit weniger Technik. Aber Müller bezieht seinen Vergleich auf ganze Branchen, die verschiedene Produkte herstellen. Bei diesem Vergleich kann auch die Arbeitsintensität nicht weiterhelfen, da die Arbeitsintensität eines ganzen Zweiges immer gleich 1 ist. Hier trifft zu, dass man die insgesamt behandelten Knochenbrüche pro Stunde nicht mit der Anzahl der insgesamt gefertigten Porzellantassen je Stunde vergleichen kann. Deshalb hat es keinen Sinn, die Arbeitsproduktivität eines Zweiges mit hoher organischer Zusammensetzung mit der eines Zweiges mit niedriger vergleichen zu wollen. Und völlig jenseits der Marxschen Theorie ist die Behauptung, dass die physische Arbeitsproduktivität einer produktiven Einheit – und Müller kennt keine andere Produktivität – einen direkten Einfluss auf ihre Mehrwertrate hätte. Einen solchen Einfluss gibt es nur dann, wenn durch eine allgemeine Steigerung der Produktivkraft der Arbeit in der Lebensmittelindustrie eine Senkung des Werts der Arbeitskraft bewirkt wird. Damit steigt das Verhältnis zwischen Mehrwert und variablen Kapital aber nicht nur in einem einzelnen Etablissement, sondern in der gesamten Volkswirtschaft. Es wäre also Müllers Aufgabe, erst einmal darzulegen, wie es eine „produktivitätsbedingt höhere Mehrwertrate“ überhaupt geben kann, die „den negativen Einfluss der höheren Wertzusammensetzung auf die Profitrate ausgleichen kann…“ (369) Bis zu diesem Nachweis darf man die Einlassungen auf Seite 369 als reine Fantasie betrachten.

Das betrifft auch die Überlegungen auf den Seiten 385 ff., bei denen sich Müller die nicht uninteressante Frage stellt, wie stark die Mehrwertrate steigen muss, um den Fall der Profitrate bei steigender organischer Zusammensetzung zu neutralisieren. Aber seine Rechnungen hängen insofern in der Luft, als der Zusammenhang zwischen Produktivität, organischer Zusammensetzung und Mehrwertrate vorher hätte dargestellt werden müssen.

1.32 Sinkende Wertzusammensetzung?

Es ist gezeigt worden: Eine Ableitung der Werte aus der physisch-technischen Struktur lehnt Müller verbal ab, praktiziert sie dann aber selbst in seinen Rechenbeispielen. (146 ff.) Weiß er nicht, was eine Ableitung der Werte aus der physisch-technischen Struktur ist? Im oben bezeichneten Abschnitt seines Buches (388) behauptet er nun selbst einen engen Zusammenhang zwischen physischer Struktur und Wertstruktur: „Wer den Anstieg der technischen Zusammensetzung [des Kapitals] akzeptiert, kann den der organischen Zusammensetzung nicht ablehnen.“ (388) Das ist zu simpel gedacht. Eine Änderung der technischen Struktur kann zu einer Umbewertung führen, so dass trotz „mehr Technik“ „weniger Kapital“ zum Einsatz kommt. Müller schließt Umbewertungen zwar definitorisch aus (305), aber das widerspricht der aktuellen Bestimmtheit der Wertgröße in der Marxschen Arbeitswerttheorie. Auf dieser definitorischen Finesse beruht der theoretische Teil seiner Argumentation gegen Lucas Zeise. (390 f.) Plausibel, aber weder empirisch belegt noch theoretisch bewiesen ist der Schlusssatz dieses Kapitels: „Der Anstieg der Produktivität geht einher mit dem der OZ.“ (392)

1.33 Rententheorie

Müller meint: „Ökonomische Verhältnisse sind relativ. Es kommt auf den Betrachtungsstandpunkt an.“ (401) Mit dieser Alltagsphilosophie begründet er den mathematischen Unsinn, „dass die Wertgröße beides zugleich, Extrem und Durchschnittswert sein kann.“ (Ebd.) Es gibt aber auch einen ökonomischen Grund, die Ansicht zurückzuweisen, dass die Rente ein Teil des Neuwerts ist. Der Wert ist, wie auch der marxistische Theoretiker Johann Köhler schreibt, immer eine Durchschnittsgröße. Die Rente, die in der Landwirtschaft und in der extraktiven Industrie entsteht, kann deshalb nur aufgrund einer dauerhaften Abweichung des Marktwertes vom produzierten Wert entstehen. M. a. W.: Wie beim Produktionspreis liegt der Rente eine Umverteilung des Mehrwertes über den Preis zugrunde. In Ermangelung einer klaren Vorstellung über den Zusammenhang von Wert und Preis lässt Müller sicherheitshalber beide Türen (Wert und Preis) offen: „Da auch der jeweils schlechteste Boden zur Ernährung und Gewinnung von Rohstoffen benötigt wird, bestimmt der höchste Aufwand Wert und Preis landwirtschaftlicher Erzeugnisse.“ (402) Stützen kann man das durch folgendes Zitat: „Das Grundeigentum … hindert diese Ausgleichung für die im Boden angelegten Kapitale und fängt einen Teil des Mehrwerts ab, der sonst in die Ausgleichung der allgemeinen Profitrate eingehen würde.“ (MEW 23: 780) Marx nimmt aufgrund der niedrigen organischen Zusammensetzung des Kapitals in der Landwirtschaft an, dass der dort geschaffene Mehrwert abfließt. Aber der Ausgleichsprozess ist keine Einbahnstraße. Wenn die organische Zusammensetzung in der Landwirtschaft höher als im Durchschnitt sein sollte, fließt Mehrwert ein. Ich komme also zu demselben Ergebnis wie Köhler (1982: 130 ff.).

1.34 Wer ist ein Marxist?

„Zum axiomatischen Bestand, auf den Marxisten nicht verzichten können, ohne aufzuhören, Marxist zu sein, gehören vier große Entdeckungen.“ (412)

Der Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit (412),
die Arbeitskraft ist eine Ware, nicht die Arbeit (412),
das Wesen des Mehrwerts (418),
das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft (420).

Das sind sehr grobe und außerdem nur ökonomische Kriterien. Aber selbst unter diesem Aspekt betrachtet fehlt das wichtigste Axiom, das einen marxistischen Ökonomen von den meisten anderen unterscheidet: Die Anerkennung und Anwendung der Arbeitswerttheorie als Fundament zur Erklärung kapitalistischer Gesellschaften. Und damit gerät die Frage in den Mittelpunkt, was als der theoretische Kern der Arbeitswerttheorie angesehen werden muss: Das ist die Erklärung des Werts der Waren durch die menschliche Arbeit.

1.35 Müllers Wertbegriff und die Wertübertragung

Müller: Die Ware Arbeitskraft „überträgt der [den] Wert der Arbeitsgegenstände (des Materials) und der Arbeitsmittel (der Anlagen, Maschinen usw.) auf die neuen Produkte.“ (418 f.) Der Wert ist nach Müller die quantitative Seite der abstrakten Arbeit. Nirgendwo betont oder sagt er, dass es eine in den Produkten vergegenständlichte, separate quantitative Größe ist, obwohl die Wertübertragung genau das voraussetzt. Wie kann die Arbeitskraft durch ihre (konkrete) Arbeit einen Wert von den Produktionsmitteln auf die Produkte übertragen, wenn diese gar keinen gegenständlichen Wert haben? Der Wert ist vergegenständlichte abstrakt menschliche Arbeit, deren Größe durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gemessen wird. Wie ist eine Übertragung des Werts möglich, wenn der Wert, wie Müller mehrmals notiert, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist? Außerdem: Man kann x nicht durch y messen, wenn x identisch mit y ist. Die Arbeit ist „die den Wert bildende Substanz“. (414) x kann y nur bilden, wenn x und y nicht identisch sind. Völlig analog: x bestimmt y. Das ist nur möglich, wenn x und y nicht identisch sind. „Die Arbeitskraft schafft Wert.“ (419) Was man schafft, hat eine gegenständliche Form. Wert ist eine Eigenschaft der Ware, und kein Aspekt der Arbeit. Die Arbeit erlischt, wenn sie den Wert geschaffen hat. Und mit ihr erlischt die abstrakte Arbeit. Wäre der Wert der quantitative Aspekt der abstrakten Arbeit, würde der Wert mit der Arbeit erlöschen.

1.36 Literatur

Heinrich, Michael (2003): Die Wissenschaft vom Wert. 3. korrigierte Auflage. Münster.

Heinrich, Michael (2022): Wertgegenständlichkeit, abstrakt menschliche Arbeit und Austausch – Fortsetzung. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 132.

Köhler, Johann (1982): Zu Grundfragen der marxistisch-leninistischen Rententheorie. Freiberger Forschungshefte D 151, Leipzig.

Müller, Klaus; Quaas, Georg (2020): Kontroversen über den Arbeitswert. Eine polit-ökonomische Debatte. WeltTrends-Verlag, Potsdam.

Pasinetti, Luigi (1988): Vorlesungen zur Theorie der Produktion. Metropolis-Verlag, Marburg.

Pohl, Helga (1955): Wenn dein Schatten sechzehn Fuß misst Berenike. Wilhelm Andermann Verlag München, Wien.

Quaas, Georg (1984): Zum Verhältnis von Wert und Preis aus mathematischer Sicht. In: Wirtschaftswissenschaft, Jg. 32, H. 11, S. 16-49 ff.

Quaas, Georg (1992): Dialektik als philosophische Theorie und Methode des ‚Kapital‘. Frankfurt a. M., Verlag Peter Lang.

Quaas, Georg (1999): Kritik der werttheoretischen Basis des neoricardianischen Modells. In: Kai Eicker-Wolf / Torsten Niechoj / Dorothee Wolf (Hrsg.): Nach der Wertdiskussion? Marburg. S.41-65.

Quaas, Georg (2017): Ist der Mehrwert messbar? Konsequenzen einer bislang wenig gewürdigten Preistheorie von Karl Marx im ersten Band des „Kapital“. In: Dieter Jahnke, Jürgen Leibiger, Manfred Neuhaus (Hrsg.): Marx’ »Kapital« im 21. Jahrhundert. Leipzig 2017, S.95-108.

Quaas, Georg (2018): Relationale Geldtheorie. Zur aktuellen Diskussion über das Geld. Metropolis-Verlag Marburg.

Quaas, Georg (2020a): Dienstleistungen in der Arbeitswerttheorie. In: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 122, Juni 2020, S. 155-160.

Quaas, Georg (2020b): Produkte ohne Wert? Zu Klaus Müller, Z 123. In: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 124, Dezember 2020, S. 175 f.

Quaas, Georg (2021): Arbeitszeit und Wert in der ökonomischen Theorie von Karl Marx. In: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 128, Dezember 2021, S. 75-81.

Quaas, Georg (2023a): Wertform-Analyse und Zeitmessung. Peter Rubens Messtheorie reloaded. Metropolis-Verlag.

Quaas, Georg (2023b): Zur begrifflichen und kausalen Struktur des Kerns der Arbeitswerttheorie. Eine Gegendarstellung zu Klaus Müller in Z 130. Im Archiv der Zeitschrift Z.

Schefold, Bertram (1971): Piero Sraffas Theorie der Kuppelproduktion, des Kapitals und der Rente. Dissertation. Universität Basel.

Simmel, Georg (2009): Philosophie des Geldes. Köln.

Zelený, Jindrich (1968): Die Wissenschaftslogik bei Marx und „Das Kapital“. Berlin.

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