Religion und Wissenschaft

Ein Vergleich von Georg Quaas (vorläufige Thesen)

Der in den wohlhabenden mitteleuropäischen Ländern aufgewachsene, aufgeklärte Bürger ist es gewohnt, von seiner post-modernen Perspektive aus auf die vielen Milliarden Menschen, deren Handeln zutiefst von religiösen Vorstellungen geprägt ist, etwas mitleidig herabzublicken. Er selbst stützt sich auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis, die zwar nicht so sicher sind wie das Amen in der Kirche, aber immerhin ständig überprüft und verbessert werden, und denen schließlich nicht nur unsere Kultur, sondern auch unsere Technik und unser Wohlstand zu verdanken sind.

Nach über 40 Jahren Tätigkeit in 5 verschiedenen Fachrichtungen, bei der ich Dutzende mehr oder weniger kontroverser Dispute überwiegend auf der Grundlage theoretischer Argumente ausgefochten habe, muss ich feststellen, dass die Menschheit dadurch der Wahrheit kaum näher gekommen ist. In den letzten 10 Jahren hatte ich die Gelegenheit, Theorien anhand empirischer Daten zu überprüfen und auf dieser wesentlich besseren Grundlage zu kritisieren, wenn sie den Test nicht überlebt haben. Ich musste feststellen, dass ich damit die Symbolproduktion der kritisierten Autoren nicht im mindesten in eine andere Richtung lenken konnte. Ganz im Gegenteil, ich beobachte zunehmend Tendenzen, Kritiken einfach totzuschweigen, psychisch zu terrorisieren und dem Kritiker nach Möglichkeit die Arbeitsgrundlagen zu entziehen.

Zunächst erinnerte mich das an das Mittelalter. Der christlichen Kirche war trotz ihrer weiten Verbreitung im europäischen Raum und ihrer enormen Macht, die sie selbst über Kaiser und Könige ausübte, völlig klar, dass sie die Symbolproduktion ihrer Gegner nicht durch Argumente stoppen konnte. Sie verbannte deren Schriften und ließ die Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, wenn sie von ihrer abweichenden Meinung nicht abschworen. Solche Methoden sind in zivilisierten europäischen Staaten verboten, aber die Erkenntnis bleibt richtig, dass man die Produktion selbst unsinniger Thesen durch einfache Widerlegung nicht verhindern kann.

Als Nächstes erinnerte ich mich daran, dass andere vor mir bereits ein ähnliches Problem gehabt haben müssen. Ein wesentlicher Aspekt des Kritischen Rationalismus, der von Popper begründeten Wissenschaftsphilosophie, besteht darin, ein Kriterium zu finden, mit dessen Hilfe man wissenschaftliche von unwissenschaftlichen Theorien unterscheiden kann – das sogenannte Abgrenzungskriterium. Angenommen, wir wenden dieses Kriterium an, so besteht der letzte Akt darin, dass wir die betreffende Theorie als „Metaphysik“ bezeichnen. Genau das habe ich in einer meiner neueren Publikationen getan und musste mir u.a. vorwerfen lassen, dass ich damit die Gefühle eines Kollegen verletzt habe.

Schließlich bin ich zu dem Schluß gekommen, dass die Wissenschaft immer mehr zu einer in Sekten gespaltenen Kirche entartet. Leider bin ich kein Religionssoziologie, so dass diese These noch etwas ungenau und ungeschliffen sein wird. Im folgenden starte ich einen ersten Versuch, diesen Eindruck zu versachlichen. Vielleicht findet sich ja ein Leser oder eine Leserin mit Ideen oder Kritiken, wie man den Vergleich verbessern kann.

Trotzdem es keine für alle Religionen zutreffende und von allen akzeptierte Definition des Begriffes „Religion“ gibt, benötigt man für einen Vergleich der gesellschaftlichen Phänomene „Wissenschaft“ und „Religion“ ein paar explizit formulierte Merkmale. Dabei stütze ich mich im Wesentlichen auf das, was andere Autoren in Wikipedia zum Thema „Religion“ zusammengetragen haben. In punkto Wissenschaft habe ich als Methodologe weniger Probleme, deren Merkmale zu erinnern.

Merkmal 1: Ganzheitliche Weltanschauung

Jede Religion beansprucht, eine Anschauung zu vermitteln, die für das Leben jedes Menschen insgesamt von Bedeutung ist. Dabei geht sie nur partiell ins Detail (z.B. Riten der Gottesverehrung) und entlässt viele Praxen aus ihrem Orientierungsanspruch, zwar nicht völlig, aber so, dass deren eigenlogische Entwicklung zumindest im technischen Bereich möglich bleibt. 

Die Wissenschaft als Ganzes beansprucht, eine Anschauung zu vermitteln, die für das Leben jedes Menschen in vielfältiger Weise von Bedeutung ist. Im Unterschied zur Religion geht sie dabei ins Detail und differenziert eine Reihe von Gegenständen aus, die durch unterschiedliche Disziplinen erfasst werden.

Historisch haben sich zwar nicht alle, aber viele Wissenschaftsdisziplinen aus der Philosophie heraus entwickelt, deren konkurrierender Anspruch gegenüber der Religion wohl unbestritten ist.

Merkmal 2: Übersinnlicher Gegenstand

Viele, aber nicht alle Religionen behaupten die Existenz eines oder mehrerer persönlicher oder unpersönlicher über-weltlicher Wesen (z. B. einer oder mehrerer Gottheiten oder von Geistern) oder Prinzipien (z. B. Dao, Dhamma) und machen Aussagen über die Herkunft und Zukunft des Menschen, etwa über das Nirvana oder Jenseits.

Jede Wissenschaftsdisziplin behauptet die Existenz des von ihr untersuchten Gegenstandes, der als solcher in der alltäglichen Praxis der Menschen nicht unmittelbar präsent ist (die Rückseite des Mondes, Atome, gesellschaftliche Verhältnisse, das Bruttoinlandsprodukt etc.). Sie verspricht, dass die Berücksichtigung dieses Gegenstandes bedeutende Konsequenzen für das Leben und Handeln der Menschen hat, so dass es notwendig ist, die über den Gegenstand aufgestellten Lehren zu studieren und anzuwenden. 

Merkmal 3: Spezialisten

Die meisten Religionen kennen Personengruppen, die die Religion überliefern, lehren, ihre Rituale ausführen und zwischen Mensch und Gottheit vermitteln. Beispiele sind Seher oder Propheten, Priester, Prediger, Geistliche, Mönche, Nonnen, Magier, Druiden, Medizinmänner oder Schamanen. Manche Religionen sprechen einzelnen dieser Menschen übernatürliche Eigenschaften zu.

In jeder Wissenschaftsdisziplin gibt es Personengruppen, die die aktuelle Lehrmeinung vermitteln, ihre Techniken und Methoden praktizieren und die Laien mit den Gegenständen der Disziplin bekannt machen. Beispiele sind Professoren, Dozenten, Assistenten, Lektoren und Tutoren sowie anderes Hilfspersonal wie Bibliothekare, Verleger und Rechentechniker, die über die Erstellung, Verbreitung und Archivierung der ausgezeichneten Texte wachen.

Merkmal 4: Institutionalsierung

In beiden Fällen – dem der Religion wie dem der Wissenschaft – organisieren sich die Expertengruppen institutionell, um die Verbreitung ihrer Lehren und einen ausreichenden Nachwuchs an Experten zu sichern. In besonderen Fällen schlägt sich die Ähnlichkeit der Institutionen Kirche und Hochschule sogar im äußeren Erscheinungsbild nieder.

Merkmal 5: Diskriminierung

Merkmale einer Religion sind nach Ferdinand Tönnies die „heftige Unduldsamkeit gegen Abweichler“ (1887). Aber auch wenn die Reaktion nicht so heftig ist, bleibt die Unterscheidung zwischen Insidern und Outsidern – unter Umständen verbunden mit existenziellen Konsequenzen, die ein Ausschluss aus der Gemeinde bzw. der Wissenschaftlergemeinschaft hat. 

Merkmal einer wissenschaftlichen Schule ist ebenfalls die Einteilung in Insider und Outsidern, die durch entsprechende Rituale wie Eignungs- und Fachprüfungen sowie durch andere Methoden des Ausschlusses aus der Wissenschaftlergemeinschaft wie Versetzung und Entlassung gesichert werden.

Soweit einige Gemeinsamkeiten zwischen Religion und Wissenschaft. Schwieriger ist es, die Unterschiede herauszuarbeiten. Mir scheint, der wichtigste Unterschied ist der Folgende:

Merkmal 6: Heiligkeit der Lehre versus rationale Diskussion

Im Unterschied zur Religion lässt die Wissenschaft Zweifel an der Existenz ihrer Gegenstände nicht nur zu, sondern braucht ihn, um die aktuellen Dogmen weiter zu entwickeln. Mitglieder einer wissenschaftlichen Schule versuchen, Beweise für ihre Lehren vorzulegen, um andere zu überzeugen. „Die anderen“ dürfen und sollen ihrerseits Beweise vorlegen, wenn sie der Meinung sind, dass jene Gegenstände nicht oder zumindest nicht auf diese Weise existieren. Schon das Ansinnen, überzeugt werden zu wollen oder überzeugen zu müssen, ist für eine Religion ein Abweichen vom Glauben. Die Texte sind heilig und dürfen grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden.

Es ist mir klar, dass ich damit ein Idealbild der Wissenschaft zeichne. Manche Professoren verhalten sich wie kleine Päpste und halten ihre Äußerungen für so heilig, dass auf Kritiken nicht eingegangen werden muss. In diesem Fall würde ich behaupten, dass die betreffende Disziplin zumindest in dem betreffenden Bereich zu einem religiösen Modus übergegangen ist.

Merkmal 7: Die Rolle der Logik

Die Rolle der Logik ist selbst in der Wissenschaft umstritten – man denke an den Streit zwischen Dialektikern und Formallogikern (in der DDR die Logikdebatte in den 50er Jahren, in der BRD der sog. Positivismusstreit), aber auch an neuere Versuche, die Logik zu historisieren. Man kann sicherlich nicht generell behaupten, dass Religionen die Gesetze der Logik ignoriert haben; der entscheidende Punkt besteht wohl in der Frage, ob die Logik im Falle eines Konfliktes mit den Dogmen die Oberhand behält; das scheint mir aber gegen das Prinzip des Glaubens zu sein. Zumindest vom Standpunkt des Kritischen Rationalismus dürfte die Aussagenlogik dominant über inhaltliche Thesen einer Wissenschaftsdisziplin sein, d.h., Thesen, die einander oder der Empirie widersprechen, können nicht als wahr betrachtet werden.

Auch in diesem Punkt idealisiere ich die Wissenschaft ein wenig. Schon Thomas S. Kuhn hat anhand der Naturwissenschaften gezeigt, dass das Denken im Rahmen einer wissenschaftlichen Schule durch Paradigmen viel stärker gebunden wird als durch die formalen Regeln der Logik. Trotzdem glaube ich, dass der Nachweis logischer Widersprüche im Rahmen wissenschaftlicher Diskurse noch eine ziemlich große Bedeutung hat. Das könnte aber auch der Grund sein, weshalb man solchen Diskursen lieber aus dem Weg geht.

 

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