Mathematisierung

Ergänzender Kommentar zum Beitrag von Georg Quaas

((0)) Georg Quaas hat kürzlich mit „Es braucht mehr Streit in der VWL“ einen lesenswerten Beitrag geliefert, dem ich in der Tendenz ausdrücklich zustimme. Allerdings existiert dort ein Punkt, an dem ich mich stoße. Gemeint ist die Aussage: „Die oft zu hörende Kritik an der Mathematisierung der Ökonomik halte ich für wissenschaftsfeindlich“. Mit der Mathematisierung ist dort ein Punkt angesprochen, der zwar in der Tat immer wieder in der Diskussion auftaucht, der bei mir selbst auch immer wieder zur Sprache kommt, der aber – das gestehe ich gerne selbstkritisch ein – eigentlich ausdifferenziert werden müsste. Deshalb will ich die obige Aussage zum Anlass nehmen, um an dieser Stelle zumindest mit einzelnen Gedanken die Kritik an der Mathematisierung konkretisieren.

((1)) Zunächst: Der selbst von Kritikern (wie mir) verwendete Begriff „Mathematisierung“ wirkt deshalb bisweilen missverständlich, weil sich hinter dieser Kritik eigentlich der Vorwurf einer „Übermathematisierung“ verbirgt. Im Grunde genommen wird nicht die Mathematik an sich, sondern die Dominanz einer zumeist unreflektiert verwendeten Mathematik in der Ökonomik kritisiert. Es handelt sich also nicht um eine pauschale Ablehnung der Mathematik, wie mensch bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht annehmen könnte (obwohl es einzelne Kritiker geben mag, die die Mathematik pauschal ablehnen mögen). Ich halte das für einen wichtigen Punkt.

((2)) Ungeachtet dieses Präzisierung stellt sich mir bezogen auf die obige Aussage von Georg Quaas die Frage, inwiefern die Kritik an der Mathematik tatsächlich „wissenschaftsfeindlich“ ist. Meines Eindrucks nach ist es eher der mit dieser Aussage verbundene Vorwurf, der auf einen „wissenschaftsfeindlichen“ Punkt zusteuert, da dieser Vorwurf die Behauptung impliziert, dass allein die – „richtige“ – Anwendung von Mathematik „wissenschaftlich“ sei.

((3)) Nun möchte ich nicht in Abrede stellen, dass Mathematik eine wichtige Methode der Ökonomik sein kann und sicher auch ein wichtiges Werkzeug der empirischen Wirtschaftsforschung ist. Allerdings lässt sich die Kritik an der Mathematisierung auch derart verstehen, dass durch die Dominanz der Mathematik in der Ökonomik andere Methoden und Ansätze verdrängt werden. Oder zugespitzt gefragt: Soll es sich bei allem, was nicht mathematisch formalisiert ist, um un-wissenschaftliches Brimborium handeln? Die in dieser Frage verborgene Behauptung stellt eine Immunisierungsstrategie dar, die sich sehr häufig im sogenannten Mainstream der Ökonomik erleben lässt (etwa, wenn einzelne meinen, dass andere Wissenschaften – im Gegensatz zur exakten Mathematik der Ökonomik – nur „Verbalgeschwurbel“ abliefern).

((4)) Damit aber kein Missverständnis aufkommt: Ich gestehe ein, dass es für die Verwendung der Mathematik gute Gründe geben kann. Letztlich ist die Verwendung der Mathematik auch eine methodische Geschmacksfrage, die einem im Sinne der Wissenschaftsfreiheit offenstehen sollte. Aber ich denke, dass es ebenfalls gute Gründe gibt, sich abseits der Mathematik bewegen zu können. Beispielsweise die Forschungen im Sinne der Historischen Schule, der Wirtschaftskulturforschung oder der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, wo übrigens auch empirisch geforscht werden kann, dies aber nicht zwangsweise mit einer mathematischen Formalisierung einhergeht. (Was nicht ausschließt, dass sich solche Forschungen auch formalisieren lassen!) Damit sei angedeutet, dass die Dominanz der Mathematik in der Ökonomik an bestimmten Stellen womöglich Erkenntnisfortschritte verunmöglicht, wenn bestimmte andere Formen, in einem bestimmten Feld (hier: Ökonomie) Wissenschaft zu betreiben, abgedrängt werden.

((5)) Ferner ist zu beachten, dass die Kritik an der Mathematisierung insofern häufig unpräzise erscheint, als dass kaum die Einseitigkeit innerhalb der Verwendung mathematischer Methoden kritisiert wird. Denn für gewöhnlich bleibt die Lehrbuchökonomik auf die Differenzial- und Integralrechnung unter Nebenbedingungen beschränkt. (Alternativ dazu sei an die Verwendung von Matrizen z. B. in der Produktionstheorie gedacht, die aber im Studium kaum vorkommt und daher fast schon exotisch ist.)

((6)) Vor dem Hintergrund dieser Kritikpunkte stimme ich Georg Quaas zu, dass wir „eine je konkrete Kritik an der Art und Weise“ der Umsetzung der Mathematik benötigen. Präziser müsste es aber eigentlich lauten, dass wir konkreter an den jeweiligen Theorien und Modellen arbeiten müssten, um diese dann auch angemessen kritisieren zu können, was sich – das sei ausdrücklich betont – nicht allein auf die Mathematik erstrecken muss. (Übrigens ist das ein Argument dafür, verstärkt auch Theoriegeschichte in das ökonomische Studium aufzunehmen.) Aber konkret bezogen auf den Vorwurf der „Mathematisierung“ bedeutet dies, dass eine solche Kritik vor allem auch die Reflexion über die Geltungsbereiche der mathematischen Modelle (sofern sie Gegenstand der Theorien/ Ansätze sind) ins Auge fassen und damit die jeweiligen Annahmen transparent machen sollte (siehe dazu auch die Äußerungen von Claus Peter Ortlieb).

((7)) In diesem Zusammenhang würde ich aber einen generellen Kritikpunkt an der Verwendung der Mathematik durchaus gelten lassen: In welchem Umfang reduzieren wir menschliche Individuen auf Zahlentupel und leisten damit ethischen Verstößen insofern Vorschub, als dann ein Perspektivwechsel mit diesen (betroffenen) Personen aus dem Blickfeld gerät? (Konkret handelt es sich dabei um Verstöße gegen die Zweckformel des Kategorischen Imperativs bzw. gegen Verstöße gegen das Universalisierungsprinzip nach Richard Mervyn Hare.)

((8)) Damit auch dazu kein Missverständnis aufkommt: Es wird sich in der Forschung sicher nicht vermeiden lassen, dass durch die Reduktion von Komplexität auch das Menschenbild „vereinfacht“ wird. Insofern wäre es verfehlt, die Verwendung der Mathematik in der Ökonomik allein mit dem Argument zu kritisieren, dass damit der Mensch auf Zahlen reduziert wird. Eine solche Kritik würde auf halbem Wege stehen bleiben, denn der eigentliche Kritikpunkt wäre dann m. E. nicht etwa die mathematische Formalisierung, sondern der Umgang damit – oder konkreter: das Ausblenden der normativen Ansprüche, die mit den aus den formalisierten Modellen deduzierten Aussagen verbunden sind. Zum Beispiel könnte die Modellierung des Arbeitsmarktes nach neoklassischer Methode als künstliches Gedankengebilde akzeptiert werden, sofern es in sich schlüssig ist. Problematisch sieht es dann jedoch aus, wenn dieses Gedankengebilde unreflektiert auf die real erfahrbare Lebenswirklichkeit angewendet wird, wo diese Anwendung dann mit ethischen, sozialen und wissenschaftstheoretischen Problemen konfrontiert ist. Dann lässt sich nicht einfach der Rückzug in den gemütlich formalen Modellsandkasten antreten, in dem eine Reihe von sozialen und ethischen Problemen zum Zwecke der Vereinfachung wegdefiniert ist, sondern dann sind ethische sowie wissenschafts- bzw. erkenntnistheoretische Begründungen für diese Anwendung gefragt: Wie rechtfertigten sich die – auch impliziten – Annahmen bei der Anwendung auf das, was wir „Realität“ nennen? Sind die Ergebnisse aus diesen Modellen – im integrativ wirtschaftsethischen Sinne – überhaupt zumutbar? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit diese zumutbar sein können? etc.

((9)) Dieser letzte Punkt bildet meiner Meinung nach den eigentlichen Kern der Kritik an der „Mathematisierung“ der Ökonomik: Mit der Formalisierung verdecken die Ökonomen häufig die Bezüge zur erfahrbaren Lebenswirklichkeit, bisweilen wird die Formalisierung aber auch zum Zwecke der Immunisierung verwendet (Stichwort: Herrschafts¬ sprache). Das hat einerseits zur Folge, dass ¬ Ökonomen oft versuchen, mit dem Hinweis auf die mathematischen Ausdrücke die eben genannten Fragen nach der Geltung ihrer Modelle zu unterbinden. Eine weitere – vielleicht nicht immer intendierte – Konsequenz ist die Verwendung und Entwicklung von Formeln, die sich kaum noch verbal vermitteln lassen.

((10)) Um auch dazu kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Wie Georg Quaas bereits andeutete, ist die Mathematik eine Sprache bzw. ein Hilfsmittel. Als solche kann Mathematik nicht intendiert „schlecht“ (im Sinne von: unangemessen) verwendet werden, aber auch ganz bewusst manipulierend, dogmatisierend, ausgrenzend und propagandistisch. Walter Otto Ötsch (2009: Mythos Markt, Marburg, S. 113) hat das wie folgt kritisiert: „Der mathematische Formalismus suggeriert ein solides Fundament und verdeckt die Schwammigkeit der Symbole, für die sie inhalt¬ lich stehen. Der sachliche Ton, gespickt mit Fachausdrücken, beansprucht Autorität. Andersdenkende wer¬ den als ‚nichtwissenschaftlich‘ abgetan“.

((11)) Vor diesem Hintergrund meine ich, dass es den Ökonomen in aller Regel am Feingefühl dafür mangelt, sich auch damit auseinanderzusetzen, was die jeweiligen mathematischen Ausdrücke eigentlich bedeuten und wie sich das mathematisch Formulierte erklären lässt. Dieser Trend kann soweit gehen, dass Mathematik zum Selbstzweck verkommt.

((12) In diesem Sinne entsteht der Eindruck, dass sich die meisten Ökonomen mit einer Sprache umgeben, die den nicht eingeweihten Personen – also den Nicht-Ökonomen – nicht zugänglich ist: Ganz im Einklang mit dem Vorwurf von Ötsch (ebd.) verkommt die Ökonomik zur Geheimwissenschaft, die nach außen hin nur Glaubenssätze predigt. Selbst wenn wohlwollend unterstellt ist, dass es mit diesen „Glaubenssätzen“ seine Richtigkeit hat, die Verwendung also nicht unangemessen sein mag (d. h. mathematisch völlig korrekt und keinesfalls „mystisch“ ist); selbst dann kann es sein, dass das mathematisch abgeleitete Wissen nach außen hin nur schwer vermittelbar ist. Wollen Wissenschaftler in dem Falle dann trotzdem irgend einen Anspruch auf Geltung – in der Gesellschaft – erheben, müssten sie sich wohl oder übel auch mit der Frage der Vermittlung – im weitesten Sinne also mit Didaktik – auseinandersetzen, sofern sie sich nicht den berechtigten Vorwurf gefallen lassen wollen, nur dogmatische Glaubenssätze in die Welt zu posaunen.

((13)) Ich bin zwar nicht so zuversichtlich wie Georg Quaas, dass sich Theorien/ Ansätze immer vor dem „Hintergrund praktischer und empirischer Fragestellungen […] testen“ lassen, schließlich kann strittig sein, welche Messgrößen für bestimmte Fragestellungen herhalten, was die Fragestellung überhaupt ist usw. Etwas zurückhaltender lässt sich aber in Anlehnung an William Warren Bartley (1962: Flucht ins Engagement, S. 171f.) durchaus anführen, dass für keine Theorie Gültigkeit beansprucht werden kann, die „durch irgendeine Sinnesbeobachtung empirisch widerlegbar“ ist bzw. widerlegt wurde und die der Kontrolle durch das Problem nicht standhält („Was für ein Problem soll die Theorie lösen? Löst sie es zureichend?“). Häufig reicht schon das, um die aus den mathematischen Modellen deduzierten Aussagen in Zweifel zu ziehen und somit eine „schlechte“ Anwendung der Mathematik (i. S. von „unsachgemäß“) nahezulegen.

((14)) Trotz dieses kritischen Einwandes: Die im Fazit von Georg Quaas intendierte (wissenschaftstheoretische) Forderung nach Kritikfähigkeit der ökonomischen Ansätze unterstreiche ich vollständig. Zu den Punkten, die Georg Quaas dort aufzählte, würde ich aber noch ergänzen: i) den Mut zum Scheitern und zu offenen Fragen sowie ii) den Willen zum redlich geführten Diskurs, der ein Bemühen um das gegenseitige Verstehen umfasst. Letzteres halte ich für besonders wichtig, weil selbst eine in sich noch so schlüssige Wissenschaft – oder Theorie – nach außen hin nicht anders als dogmatisch erscheinen kann, wenn sich ihre Vertreter nicht darum bemühen, die entsprechenden Inhalte auch verständlich zu vermitteln. Von diesem Problem ist die mathematisierte Ökonomik, jedenfalls so wie sie heute betrieben wird, in ganz besonderer Weise betroffenen.

Hinweis: Die in diesem Beitrag verwendeten Begriffe in ihrer männlichen Form sind grundsätzlich der weiblichen Form gleichgestellt. Auf eine Differenzierung wurde aus Gründen der Lesefreundlichkeit verzichtet.

Ein Gedanke zu „Mathematisierung

  1. Als diplomierte Mathematikerin und diplomierte Ökonomin kann ich sowohl dem kommentierten als auch dem kommentierenden Beitrag eine Menge kluger und schlüssiger Argumente entnehmen. Ausgangspostion und Präzisierung unterstützen dabei, das ins Gerede gekommene Terrain der Anwendung der Mathematik auf die Ökonomie neu zu sondieren. In meiner eigenen jahrelangen Tätigkeit als Hochschullehrerin habe ich immer wieder die Erfahrung machen können, dass Mathematiker (meistens) bescheidene Menschen mit großer Achtung gegenüber echter Erkenntnisleistung anderer sind. Es gibt keinen Grund, diese positive Eigenschaft prinzipiell nicht auch mathematisch arbeitenden Ökonomen zu konzedieren, doch wissen wir alle, dass sie bei manchen abhanden gekommen ist und einer unangemessenen Hochmütigkeit Platz gemacht hat. In diesem Kontext sind auch bestimmte Verschiebungen und Schwerpunktverlagerungen in den volkswirtschaftlichen Curricula zu sehen. Die von S. Thieme angemahnte Rückbesinnung auf die ökonomische Theoriegeschichte ist ein Beispiel dafür. Durch die Verdrängung von einem Platz innerhalb der volkswirtschaftlichen Kernfächer zu einem x-beliebigen Wahlmodul ist die Situation eingetreten, dass Studierende in Schlüsselqualifikationen und interessierte „Nebenfächler“ inzwischen besser ökonomisch-theoriegeschichtlich gebildet sind als viele Studierende der wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern wird auf die Dauer negative externe Effekte generieren.

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