Kritik aus den eigenen Reihen. Was wollen die bloß?

(Zuerst erschienen bei „Ökonomenstimme“ unter dem von der Redaktion abgeänderten Titel: „Es braucht mehr Streit in der VWL“.)

Die internen Berichte über den Platz der Volkswirte in der bundesdeutschen und internationalen Wissenschaftlergemeinschaft klingen vermutlich überall fantastisch. Entsprechende Studiengänge haben mehr und mehr Zulauf. (Ob sich das angesichts des skandalösen Streits um die Euro-Politik ändert, bleibt abzuwarten.) Für einen Moment versetze man sich in die Situation eines der amtierenden Volkswirtesprecher; dann stellt sich die Frage: Was wollen die Kritiker bloß? Wer hindert sie daran, ein interessantes Papier zu schreiben und in einer von den hunderten ökonomischen Zeitschriften, die es weltweit gibt, zu veröffentlichen?

Kritische Fragen werden meistens von Außenstehenden gestellt und weniger von den Vertretern des Mainstreams. Das Vertrauen in die herrschenden Paradigmen und die Zuversicht, damit die anstehenden Probleme zu lösen, ist hoch (Stermann, Wittenberg 1999, S.325 ff.). Kritiker werden einfach als fachfremd qualifiziert (Dobusch, Kapeller 2009, S.21 ff.). Als Wissenschaftstheoretiker und Methodologe, der seit Jahren in der Ökonomik arbeitet, besteht für mich die Gefahr, ebenso betrachtet zu werden. Nur hat die oft zu hörende Aufforderung, „get on with your job“, hier einen anderen Sinn, nämlich den, die gegenwärtige Krise der Ökonomik auf den Begriff zu bringen. Und sei es auch nur hypothetisch.

1. Die Volkswirtschaftslehre leidet momentan ein wenig unter der sicherlich notwendigen Arbeitsteilung innerhalb dieser Disziplin. Oberflächlich gesehen könnte man meinen, dass das Zusammenspiel zwischen Theorie und Empirie lange nicht so gut wie beispielsweise in der Physik funktioniert. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass man eher eine weitgehende Abkopplung der empirischen und der theoretischen Forschung von den volkswirtschaftlich und wirtschaftspolitisch relevanten Problemen zu beklagen hätte. Der ganzheitliche, komplexe Gegenstand der Volkswirtschaftslehre ist unter dem Deckmantel der Spezialisierung durch andere, entweder konkretere oder abstraktere Forschungsfelder ersetzt worden. Wohlgemerkt bezieht sich diese Anmerkung nicht auf die vielen Kommentare und gut gemeinten Ratschläge, die sowohl von berufenen als auch nicht-berufenen Ökonomen in den Medien verbreitet werden, ohne unbedingt fachlich fundiert zu sein.

2. Die oft zu hörende Kritik an der Mathematisierung der Ökonomik halte ich für wissenschaftsfeindlich. Bedauerlicherweise gibt es aber nicht nur gutes und schlechtes Englisch, sondern auch gute und schlechte Modellierungen quantitativer Zusammenhänge. Mathematiker, die wissen, wie man’s richtig macht, und die einen Blick in die Theorienkiste der Ökonomen wagen, bezeichnen das, was sie da sehen, schlichtweg als „Scharlatanerie“ (http://www.math.uni-hamburg.de/home/ortlieb/MathScharlatanPS.pdf). Angesichts einer Menge durchaus gelungener und sehr nützlicher Modelle kann man dem nicht vorbehaltlos zustimmen. Zutreffend ist jene Kritik an der Mathematisierung, wenn Modelle konstruiert werden, die sich jeder empirischen Überprüfung entziehen, die nur zufälligerweise zu den Daten passen oder aber so flexibel sind, dass sie immer zu den Daten passen. Darüber hinaus gibt es auch Modelle, die bekanntlich einen logischen Fehler in sich haben (z.B. Hayeks Dreieck). Aber auch da können sich Einschätzungen ändern. Viele Jahrzehnte hat man geglaubt, einen logischen Widerspruch im Transformationsmodell von Werten in Preisen unterstellen zu dürfen – seit 1956 ist klar, dass dies ein Irrtum war (Seton 1956; Quaas, F. 1992). – Diese kleine Aufzählung umstrittener mathematischer Ansätze könnte sicherlich auf jedem Spezialgebiet fortgesetzt werden. Sie macht deutlich, dass wir keine generelle Kritik an der Mathematisierung brauchen, sondern eine je konkrete Kritik an der Art und Weise ihrer Realisierung.

3. Bedingt durch ideologische, institutionelle und soziologische Entwicklungen (Dobusch / Kapeller 2009) ist Kritik – eine wesentliche Treibkraft der Erkenntnis – kaum noch gefragt und wird von Teilen der Wissenschaftlergemeinschaft als anrüchig empfunden. Und das ausgerechnet in einer Disziplin, die den Kritischen Rationalismus auf ihre Fahne geschrieben hat! Möglicherweise liegt das daran, dass von dieser Wissenschaftstheorie vor allem die Version ins öffentliche Bewußtsein gelangt ist, die der junge Popper vertreten hat. Die Theorie als Ganzes wird als ein Reservoir, man könnte auch sagen: als ein Sammelsurium von Werkzeugen aufgefasst, aus dem man sich nach Belieben bedienen kann. In der Fachsprache bezeichnet man eine solche Auffassung als „Instrumentalismus“. Die Konsequenz dieser postmodernen Beliebigkeit ist, dass kaum noch professionelle Selektionen in Form von Theorientests, Replikationen und entsprechende kritische und polemische Darstellungen in der Fachliteratur zu finden sind.

4. Doch das Problem des Fehlens von Kritik und einer Streitkultur wird nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie durch die Wissenschaftler verursacht, sondern auch durch deren unmittelbares institutionelles Umfeld, also durch die Universitäten, Akademien, Fachhochschulen und sonstigen Forschungseinrichtungen befördert, die zunehmend an einem stromlinienförmigen Erscheinungsbild interessiert sind, um nach außen hin „exzellent“ zu erscheinen. Klarerweise möchte die Politik eine effiziente Wissenschaft, die ihr, wenn schon keine wirkliche Hilfe, so doch wenigstens legitimierende Analysen liefern kann. In einem wohltuend sein wollenden Aktionismus schüttet sie das Füllhorn über diejenigen aus, die bislang sowieso schon die Besseren waren oder denen es erfolgreich gelungen ist, ihr Image aufzupolieren. Dass Exzellenz nicht aus dem Boden gestampft werden kann, sondern wachsen muss, und vor allem dann entsteht, wenn man alle Blumen blühen lässt, scheint sich noch nicht überall herumgesprochen zu haben.

5. Weitere, möglicherweise viel wichtigere Punkte müssten genannt werden, um die Kritik am gegenwärtigen Zustand der VWL verständlich zu machen, wie das „intentional path creating“ (Dobusch und Kapeller 2009, S.10 ff.), die damit verbundenen „increasing returns of scale“ der ökonomisch-publizistischen und lehrmäßigen Produktion, aber auch „lock-ins“ (Sydow, Schreyögg und Koch 2005, S.6 ff), die die Normalwissenschaft in einen „self-reinforcing feedback process“ verwandeln. Von den wissenschaftstheoretisch bereits bekannten Eigenheiten der neoklassischen Synthese sei hier nur noch eine hervorgehoben, nämlich die „axiomatic variation“ (Dobusch und Kapeller 2009, S.16). Dabei handelt es sich um eine Immunisierungsstrategie, gegen die der von Popper kritisierte Konventionalismus geradezu primitiv erscheint. Sie macht es den „defenders“ möglich, mit den Kritikern Hase und Igel zu spielen. Ein aktuelles Beispiel liefert Schnellenbach (2012a) mit seiner Kritik an dem o.g. Memorandum. Zu allem Überfluss macht der Autor (Schnellenbach 2012b) in seiner Antwort auf Thielemann auch noch klar, dass er selbst in einem Widerlegungsfall an seiner Theorie festhalten würde! Eben das zeichnet ihn als hartgesottenen Anhänger einer Tradition aus, den Popper bereits in seiner „Logik der Forschung“ charakterisiert hat: „Jedesmal, wenn ein gerade ‚klassisches’ System durch Experimente bedroht ist, die wir als Falsifikation deuten werden, wird der Konventionalist sagen, das System stehe unerschüttert da…“ (Popper 1934, S.41.)

Die Bereitschaft, eigene Thesen zur Kritik zu stellen sowie auf Kritiken sachlich zu reagieren, Theorien auf dem Hintergrund praktischer und empirischer Fragestellungen zu entwickeln und zu testen, die Volkswirtschaft als Ganzes in den Blick zu nehmen, den Studierenden nicht nur schlüssige Problemlösungen, sondern auch offene Probleme zu vermitteln, die Wissenschaft nicht als Ruhekissen oder Sprungbrett zur nächsten Karrierestufe, sondern als die schwierige, oftmals frustrierende, manchmal aber auch beglückende Suche nach der Wahrheit, die letztlich die menschliche Existenz erleichtern soll, zu betrachten – all’ diese Dinge sind, falls sie jemals ein hervorstechendes Merkmal der Wissenschaftspraxis waren, nur noch selten anzutreffen und, was noch schlimmer ist, sie sind als erstrebenswerte Ideale kaum noch präsent.

Verweise

Dobusch, L. und J. Kapeller (2009): “Why is Economics not an Evolutionary Science?” New Answers to Veblen’s Old Question. Abgerufen am 21.06.2012 von http://www.dobusch.net/pub/uni/Dobusch-Kapeller%282009%29Path-Dependent-Economics-WP.pdf

Popper, K. R. (1934): Logik der Forschung. S.41.

Quaas, F. (1992): Das Transformationsproblem. Marburg.

Quaas, G. (2011): Ein kritisches Resümee des Target2-Problems. In: Wirtschaftsdienst, 91. Jg., Heft 12, S.834-842.

Schnellenbach, J. (2012a): Noch ein Memorandum. Noch ein Methodenstreit? 12. Mai 2012. Abgerufen am 22.06.2012 von http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=9219

Schnellenbach, J. (2012b): Wie „ökonomistisch“ ist die Mainstream-Ökonomik wirklich? Eine Antwort auf Ulrich Thielemann, vom 14. Juni 2012. Abgerufen am 22.06.2012 von http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=9405#more-9405

Seton, F. (1956): The “Transformation Problem”. In: Review of Economic Studies, Vol. 24, S.149 ff.

Sterman, J. D. und J. Wittenberg (1999): Path Dependency, Competition and Succession in the Dynamics of Scientific Revolution. Organization Science, Vol. 10, No. 3, S.322-341.

Sydow, J., G. Schreyögg und J. Koch (2005): Path Dependency and Beyond. Quelle abgerufen am 21.06.2012 von
http://www.wiwiss.fu-berlin.de/forschung/pfadkolleg/downloads/organizational_paths.pdf

Thielemann, U., T. Egan-Krieger und S. Thieme (2012): Für eine Erneuerung der Ökonomie. Memorandum besorgter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Berlin, 13. März 2012. Abgerufen am 22.06.2012 von http://www.mem-wirtschaftsethik.de/memorandum-2012/das-memorandum/

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