Der schwarze November 2021

(Dritte Fassung am 18.12.2021 aktualisiert.)

Im November 2021 erlebte Deutschland seine seit langem dunkelsten Tage – und das nicht nur durch den wolkenverhangenen Himmel und den niedrigen Stand der Sonne verursacht. Die deutschen Medien sprechen von einem kollektiven Politikversagen gegenüber der seit August heranrollenden vierten Corona-Welle. Die Zahlen steigen rasant an, aber die Koalitionäre heben die epidemische Notlage nationalen Ausmaßes auf, um das Parlament wieder ins Spiel zu bringen. Doch warum musste man zugleich das Ende der Maßnahmen für den März 2022 verkünden? Offensichtlich eine krasse Fehleinschätzung der Situation, die durch den neuen Gesundheitsminister inzwischen korrigiert worden ist. Auch lässt sich die abwartende Haltung der Länder und der damals noch amtierenden Regierung politikwissenschaftlich gut erklären – die Länder verlagern die Verantwortung für harte Maßnahmen gern auf den Bund – die Handlungsfähigkeit des Bundes ist aber durch Wahlen und Regierungsbildung blockiert. Doch darauf nimmt eine Pandemie keine Rücksicht. Es ist verständlich, dass die zahlreichen Berater der Bundesregierung schier in Verzweiflung geraten sind, da ihre Warnungen seit Monaten ignoriert wurden. Und es ist auch verständlich, dass damals oberste Pandemiebekämpfer, der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler, dabei Sätze von sich gibt, die die Medien als „Wutausbruch“ interpretiert haben. Um wenigstens die Bevölkerung zu etwas mehr Vorsicht zu bewegen, wenn die Politik schon nicht ausreichend reagiert, behauptete Wieler nach einem Bericht des Ersten Deutschen Fernsehens: „Zuletzt seien 0,8 Prozent der Erkrankten gestorben. Das bedeute, dass von den mehr als 50.000 Infizierten pro Tag in den nächsten Wochen 400 sterben würden. ‚Daran gibt es nichts mehr zu ändern.‘… Niemand könne diesen Menschen noch helfen, selbst mit bester medizinischer Versorgung nicht.“ (ARD: Tagesschau vom 18.11.2021)

Eine solche Prognose ist ziemlich gewagt, selbst wenn sie auf einem voll ausgestatteten epidemiologischen Modell – eventuell ergänzt durch Bewegungs-, Wetter- und Impfdaten – beruhen würde, ein Instrument, dass dem RKI vermutlich nicht zur Verfügung steht. Angenommen, die Information stammt von Dritten: Da die Prognose all der determinierenden Faktoren höchst unsicher ist – von der Reaktion der Politik auf die exponentiell wachsenden Zahlen ganz zu schweigen – ist die Vorhersage der zukünftigen Mortalität höchst problematisch. Andererseits geht es hier „nur“ um die zu erwartende Sterblichkeit, von der man weiß, dass sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wenige Wochen nach Infektion einen Teil der Infizierten trifft. Der Bericht lässt vermuten, dass Wieler eine der Mortalitätsraten konstant gesetzt und mit den volatileren Zahlen der Pandemie multipliziert hat, wobei er sich bei Letzterem auf die durchschnittlich 50.000 Neuinfektionen pro Tag bezogen hat, die in der zweiten Novemberhälfte gemeldet wurden. Doch welche der verschiedenen Sterblichkeitsraten hat er benutzt?

Mortalitätsmaße

Für die durch eine Pandemie/Epidemie verursachte Sterblichkeit (Anzahl der an oder mit einer Krankheit Verstorbenen) verfügt die Epidemiologie über verschiedene Maße. Unter das oft gebrauchte Kürzel CFR (Case Fatality Rate) fallen mehrere Definitionen. Für die vom RKI gelieferten Daten sind folgende von Bedeutung: Die „Confirmed Case Fatality Rate“ bedeutet im engeren Sinne die Relation der Toten pro Anzahl der Fälle mit bestätigten Labor-Ergebnissen. Daneben gibt es die alternative CFR, ermittelt als Abschätzung der Toten pro Summe aus Genesenen und Toten. Bezöge man noch die Dunkelziffer von Infizierten mit leichten Symptomen ein, die gar nicht erst erfasst werden (siehe WHO), verändert sich die Bezugsgröße noch einmal, so dass sich – so darf man vermuten – wesentlich kleinere Zahlen ergeben würden. Die Rate, die die Zahl der Toten auf alle hochgerechneten Infektionen bezieht, stellt eigentlich keine echte Fallsterblichkeit dar, sondern eine Art Infektionssterblichkeit. Diese ist in aller Regel drastisch kleiner, da sie sich auf eine größere Bezugsgröße als die der bestätigten Fälle bezieht. (F. & G. Quaas 2020, S. 47 ff.)

Von diesen verschiedenen Maßen spielt übrigens keine einzige eine Rolle im klassischen epidemiologischen Modell, das die Grundlage für eine fachgerechte Erklärung und Prognose des Pandemieverlaufs bildet (Anderson; May 1991). Stattdessen wird im Rahmen dieses Modells die Zahl der pro Zeiteinheit (z.B. pro Tag) Verstorbenen und Genesenen auf die Gruppe der aktiven Infizierten (der Infektiösen) bezogen. Diese Rate, mit dem griechischen Buchstaben GAMMA bezeichnet, ist der Kehrwert der Verweildauer eines oder einer Infizierten in der Gruppe der Infektiösen. (Hethcote 2000: 603)

Rechnet man aus der „transfer rate“ GAMMA die Genesenen heraus, so ergibt sich die Rate derjenigen, die aus der Gruppe der Infektiösen mit ihrem Tod ausscheiden, hier mit DELTA bezeichnet. Abgesehen von eventuellen Zeitverzögerungen ähnelt diese Rate stark der oben beschriebenen alternativen CFR.

Die Entwicklung der Zahlen

Die Fatality Rate oder CFR: Am 25.11.2021 überstieg die Zahl der Verstorbenen die 100.000er Marke (exakt: 100.119 Fälle). Zum gleichen Zeitpunkt gab es 4.744.400 positiv Getestete. Das ergibt eine Fatality Ratio von 2,1 Prozent (wenig später – am 18.12.2021: 1,6 Prozent). Da es sich um eine Durchschnittszahl über den gesamten Zeitraum der Pandemie handelt, in dem sehr unterschiedliche Bedingungen für die Verbreitung des Virus bestanden, ist diese Zahl wenig aussagekräftig für die aktuelle Gefahr, an Corona zu versterben.

Die beiden „transfer rates“: Am 25.11.2021 gab das RKI für den Vortag den Umfang der Infektiösen mit 729.200 Fällen an. An diesem Tag starben 351 Menschen, 31.500 Infizierte wurden als „genesen“ betrachtet. Das ergibt eine Transferrate GAMMA von 0,44 Prozent pro Tag und eine Aufenthaltsdauer in der Gruppe der Infektiösen von durchschnittlich 23 Tagen. Die „transfer rate“ DELTA ist aufgerundet 0,05 Prozent pro Tag, woraus folgt, dass während des Aufenthalts in dieser Gruppe ca. 1,1 Prozent sterben.

Demnach bewegt sich die Sterbewahrscheinlichkeit je nach angewandter Methode zwischen 1,1 und 2,1 (1,6) Prozent. Der geringere Wert ergibt sich aus der aktuellen Pandemielage, die eine geringere Sterblichkeit als im März/April 2020 (damals über 4 Prozent) verzeichnet – was sicherlich ein Ergebnis der zahlreichen Schutzmaßnahmen, insbesondere der des Impfens, ist.

Diese auf die Daten eines einzigen Tages gestützten Zahlen sind nur eine Momentaufnahme. Die Berücksichtigung von statistischen Schwankungen würde eine Schätzung der „wahren“ Mortalität erlauben. Anstatt aber abstrakte Mittelwerte und ihre Fehlertoleranzen anzugeben, zeigt die folgende Abbildung 1 den Verlauf der beiden Sterblichkeitsmaße (in Prozent) über den gesamten Zeitraum der Pandemie zusammen mit einer groben Einordnung in die Abfolge der Wellen (Stand 18.12.2021):


Abbildung 1: Datenquelle: RKI; eigene Rechnungen

Es ist deutlich zu erkennen, dass die Maße nicht nur tendenziell, sondern (mit einer Ausnahme) vor allem am Anfang einer Welle, also immer bei einem starken Anstieg der Fallzahlen, sinken. Bei Letzterem handelt es sich um einen statistischen Effekt, der wenig mit der „wahren“ Sterblichkeit zu tun hat, sondern ein Resultat der Abhängigkeit der Anzahl der Tests von der epidemiologischen Lage ist. – Zum Vergleich mit den allgemein bekannten Zahlen der Neuinfektion noch diese Abbildung 2:


Abbildung 2: Datenquelle: RKI; eigene Rechnungen

Und hier der Verlauf der Corona bedingten Mortalität:


Abbildung 3: Datenquelle: RKI; eigene Rechnungen

Zur Prognostik

Die ad hoc kreierten Sterblichkeitsraten „Tote pro Neuinfizierte“ oder „Tote pro Erkrankte“ sind wegen ihrer starken Schwankungen wenig geeignet, die zukünftige Entwicklung der Mortalität vorauszusagen. Wie stark beispielsweise die Faustregel „0,2 x Zahl der Erkrankten = Sterbefälle“ von der aktuellen Lage abweicht, zeigt die Abbildung 3:


Abbildung 4: Datenquelle: RKI; eigene Rechnungen

Dagegen wäre die Sterblichkeitsrate DELTA (7-Tagesdurchschnitt, Standardabweichung 0,02 Prozentpunkte seit September) aus zwei Gründen gut für eine Prognose der täglichen Zahl von Corona-Toten geeignet: Sie ist in den letzten Wochen recht stabil und stellt die Sterblichkeit am aktuellen Rand dar (siehe Abbildung 1). In erster Näherung könnte man annehmen, dass dieses Maß auch in den nächsten Wochen konstant bleibt. Problematisch ist, dass sie mit der Zahl der Infektiösen und nicht mit der Zahl der Neuinfizierten multipliziert werden muss. Die Zahl der Infektiösen hängt zwar von der Zahl der Neuinfektionen ab, zugleich aber auch von der Zahl der Genesenen und Verstorbenen. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Gruppe der Infektiösen, die im Zentrum der epidemiologischen Modellierung steht (siehe Wikipedia):


Abbildung 5: Datenquelle: RKI; eigene Rechnungen

Angesichts des starken Anstiegs der Gruppe der Infektiösen verbietet es sich, ihren Umfang aus Gründen der Prognostik konstant (z.B. auf 700.000) zu setzen. Bis vor kurzem ist diese Gruppe noch exponentiell gewachsen. Die von Wieler genannte Zahl könnte deshalb noch stark untertrieben sein. Die Situation ändert sich erst, wenn die effektive Reproduktionszahl (korrekt zu berechnen nach dem klassischen epidemiologischen Modell) beispielsweise durch Impfen und Kontaktreduktion deutlich unter 1 sinkt. Das ist erst seit wenigen Tagen der Fall.


Abbildung 6: Datenquelle: RKI; eigene Rechnungen

Der letzten Abbildung kann man außerdem entnehmen, dass die befürchtete 5. Welle noch nicht in Sicht ist. Weihnachten kann kommen!

Verweise:

Anderson, Roy M.; May, Robert M. (1991): Infectious Diseases of Humans. Dynamics and Control. Oxford, New York, Tokyo.

Hethcote, H. W. (2000): The Mathematics of Infectious Diseases, SIAM Review, Vol. 42, No. 4., pp. 599-653.

Quaas, F.; Quaas, G. (2020): Corona – der unsichtbare Feind. Marburg 2020.

ARD (Tagesschau vom 18.11.2021): Wielers Wutrede und neue Höchststände. URL: www.tagesschau.de

WHO: Estimating mortality from COVID-19.
URL: https://www.who.int/publications/i/item/WHO-2019-nCoV-Sci-Brief-Mortality-2020.1 Abgerufen am 28.11.2021.

Wikipedia: Mathematische Modellierung der Epidemiologie. URL:
https://de.wikipedia.org/wiki/Mathematische_Modellierung_der_Epidemiologie Abgerufen am 1.11.2021.

Datenquellen:

ESRI-Webseite, Daten vom Bundesamt für Kartographie und Geodäsie sowie vom Robert Koch-Institut,
https://www.arcgis.com/home/item.html?id=f10774f1c63e40168479a1feb6c7ca74

Robert Koch-Institut: Tägliche Lageberichte ab 4. März 2020, abrufbar unter:

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Archiv_2020_tab.html

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Archiv_2021_tab.html

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