Einleitung
Die beiden Herren, mit denen ich im Mai 2020 diskutiert habe, konnten sich nicht
so richtig entscheiden, ob sie einer Veröffentlichung zustimmen wollen oder nicht. Einerseits sind sie wie ich felsenfest von der Richtigkeit ihrer Position überzeugt, aber andererseits hatten sie vielleicht auch kein gutes Gefühl dabei, das Folgende unter die Leute zu bringen. Ich habe ihren Namen deshalb weggelassen. Es ist auch egal, WER die folgenden Argumente von sich gegeben hat, man liest sie allenthalben.
Es geht um die ziemlich simple Frage, ob es im „Kapital“ von Karl Marx (Band 1) eine einzige Stelle gibt, an der Marx den Wert in Stunden, Tagen etc. angibt. Ich habe behauptet: Die gibt es nicht und die kann es auch nicht geben. Denn der Mechanismus ist ein kleinwenig komplizierter: die (gesellschaftlich notwendige) Arbeitszeit bestimmt den Wert, ist aber kein Wert. Und umgekehrt: Wert ist keine Arbeitszeit!
Ich hatte den einen Diskussionsteilnehmer aufgefordert, die Stellen aufzulisten, die den Zusammenhang zwischen Wert und gesellschaftlich notweniger Arbeitszeit darstellen. Diese Textstellen werden im Folgenden besprochen. Und so geht es los:
GQ: Lieber S.,
vielen Dank für Deine Zusammenstellung, in der Du alle die Stellen weggelassen hast, die meine Auffassung bestätigen. Umso dankbarer bin ich, denn die Widerlegung Deiner Widerlegung ist leicht.
S: 1) „Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen „wertbildenden Substanz“, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.“(23/53)
GQ: Ich lese: Die Arbeit selbst misst sich an ihrer Zeitdauer und die so gemessene Arbeit misst dann den Wert. Aber wie? Das sagt Marx in diesem Text nicht. Entscheidend ist: Das Maß für Etwas ist nicht identisch mit dem Etwas.
K.: Arbeit misst sich an ihrer Zeitdauer, das heißt: Arbeitsmengen messen sich in Stunden, Tagen… 10 Stunden Arbeit sind doppelt so viel Arbeit wie 5 Stunden. Und das ist dann der Wert; 10 Stunden Wert ist ein doppelt so hoher Wert wie 5 Stunden.
GQ: „Und das ist dann der Wert.“ Das habe ich, lieber K., als ich noch Philosoph war, einen „Kurz-Schluss“ genannt. Du unterstellst hier etwas, das Du beweisen willst. Marx sagt nur, dass die Wertgröße durch die Arbeitszeit gemessen wird. Aber er sagt nicht, wie. Die Vermittlungsglieder fehlen.
S.: 2) „Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit.“(23/54 – vgl. „Zur Kritik“, 13/18: Als Tauschwert sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit.)
GQ: Werte sind festgeronnene Arbeitszeit, aber keine Arbeitszeit. Warum erlaubt man sich in der Wissenschaft, von Unterschieden zu abstrahieren, die im Alltag beachtet werden? Wahrscheinlich, weil sie im Alltag das Leben kosten könnten. Festgeronnenes Wasser ist Eis, und Eis ist auch Wasser. Aber Nichtbeachtung des Formunterschieds könnte verheerend sein.
K.: Deine Logik verstehe ich nicht. Eis ist auch Wasser, warum akzeptierst Du dann nicht, dass Wert auch Arbeit ist? Nicht lebendige, sondern tote, vergegenständlichte.
GQ: Weil vergegenständlichte Arbeit keine Arbeit mehr ist. Vergegenständlichte Arbeit ist die Eigenschaft der von Menschen bewusst hervorgebrachten Produkte, insbesondere der Waren. Eine Eigenschaft von produzierten, nützlichen DINGEN kann nicht identisch sein mit dem PROZESS, der diese Dinge hervorgebracht hat.
Außerdem hört hier die Analogie mit dem physikalischen Beispiel auf. Eis kann man in flüssiges Wasser zurückverwandeln. Warum? Weil Eis der Natur nach Wasser ist. Eis und flüssiges Wasser sind nur verschiedene Zustände des Wassers. Der Wert ist aber kein Zustand der Arbeit. Wert ist überhaupt keine Arbeit, sondern Produkt der Arbeit.
S: 4) 1. Auflage folgt: „Wir kennen jetzt die Substanz des Werts. Es ist die Arbeit. Wir kennen sein Größenmaß. Es ist die Arbeitszeit. Seine Form, die den Wert eben zum Tausch-Wert stempelt, bleibt zu analysieren. Vorher jedoch sind die bereits gefundenen Bestimmungen etwas näher zu entwickeln.“(23/55)
GQ: Ja, das ist der Mechanismus. Aber wo drückt Marx hier den Wert in Stunden, Tage etc. aus? Nirgends.
K.: Geht es denn überhaupt noch eindeutiger? Hier heißt es: Wert ist Arbeit. Und das Größenmaß der Arbeit ist die Arbeitszeit Und da die Arbeitszeit, die Zeit überhaupt, ausgedrückt wird in Stunden, Tage usw., wird der Wert eben auch in Arbeitszeiteinheiten ausgedrückt.
GQ: Hier steht nicht, „Wert ist Arbeit“, sondern „die Substanz des Werts“ … „ist Arbeit“. Bei solchen „Kurz-Schlüssen“ fangen dann meine Zweifel an, wie genau Du Marx liest. Und S.s Lesart ist ja noch transzendenter… Leider ist sie in diesem Text nicht enthalten. Aber vielleicht schiebt er ja noch seine Gegenargumente dazwischen.
Hier eine kleine Erläuterung: Marx Substanzbegriff baut auf Hegels Spinoza-Kritik auf (ich glaube, sie steht in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes, letztere habe ich aber momentan nicht zur Hand). Hegel kritisiert, dass Spinoza Gott nur als Substanz fasst und nicht zugleich als Subjekt. Marx verwendet den Substanzbegriff ohne Gott und bezieht ihn auf den Wert. Er bezieht ihn auf den Wert, setzt den Wert aber NICHT mit der Substanz gleich. Vielmehr nimmt er Hegels Präzisierung auf, dass die Substanz des Wertes ein Prozess sein muss – und das ist die Arbeit. Die Arbeit ist die Substanz des Werts. Du identifizierst den Wert mit seiner Substanz. Überleg mal, welche Blöße Du Dir (und Marx) mit Deinem In-eins-Setzen gegenüber denjenigen gibst, die im Wertbegriff eine Substanz-Ontologie sehen.
GQ: Also: Es bleibt dabei: Es gibt keine Stelle im Kapital Band 1, an der der Wert so wie bei K. direkt in Arbeitszeiteinheiten ausgedrückt wird.
K.: Dann lies doch bitte nochmal die Seiten 53 und 54 im Kapital I. Dort heißt es, Wert ist gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit und als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit.(Das überzeugt Dich nicht, siehe oben) Für mich aber ist das eindeutig: Wert ist Arbeitszeit.
Das war nun mein letzter Versuch, Dir zu erläutern, wie alle Ökonomen, die ich kenne (außer Dir) die entsprechenden Passagen lesen.
GQ: Das ist ja ein tolles Argument! 99 Prozent der Menschen glauben an ein göttliches Wesen. Da werden die wohl Recht haben!
Lieber K., das, was Du da hineininterpretierst, steht wirklich nicht da, auch wenn Du das behauptest. Du liest Marx ziemlich ungenau. Dort steht:
S: “Wie nun die Größe seines [des Gebrauchswerts] Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‚wertbildenden Substanz‘, der Arbeit.“
Hier sagt Marx ganz klar, was ich oben ausgeführt habe: Die Arbeit bildet den Wert. Hier sind zwei Objekte im Spiel, Arbeit = das Bildende und Wert = das Gebildete. Wie kann denn das, was etwas anderes bildet, mit diesem anderen identisch sein? Die Arbeit bildet Arbeit? Das ist doch Blödsinn. Die Arbeit bildet Wert, und weil sie und nicht die Natur das Bildende ist, nennt Marx den Wert auch vergegenständlichte Arbeit.
Von diesen zwei Objekten misst nun das eine, die Arbeit, zugleich das andere, den Wert. Aber wie? Das macht Marx im Folgenden deutlich:
„Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder andren Ware wie die zur Produktion der einen notwendigen Arbeitszeit zu der für die Produktion der andren notwendigen Arbeitszeit.“ (54)
Also klarer kann man es nicht sagen, dass Arbeitszeit und Wert verschiedenen Objekte sind, für die folgenden Proportionalitätsverhältnis gilt:
W(a):W(b) = t(A):t(B), wenn a=a(A) und b=b(B).
Stell Dir mal vor, man würde den Wert W(a) durch die Arbeitszeit t(A) ersetzen. Dann wäre nicht nur diese Gleichung, sondern auch Marx Aussage völlig sinnlos. Eine Proportionalität kann es nur zwischen qualitativ verschiedenen (!) Größen geben.
Leider endete die Debatte etwas unschön, weil sich einer der Teilnehmer in seiner Logik angegriffen fühlte. Der Austausch von Argumenten ist halt manchmal ein knallhartes Geschäft. Es gab auch diverse Fortsetzungen, die ich vielleicht noch veröffentliche. Kommentare zu diesem Thema – wenn sie nicht zu lang sind und auf die Sache eingehen – sind willkommen!